Hasskriminalität in Bayern:„Jüdische Menschen in diesem Land haben Angst“

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In Bayern haben die Fälle von Hasskriminalität stark zugenommen. (Foto: Paul Zinken/dpa)

Die Zahl antisemitischer Vorfälle hat sich deutlich erhöht – dazu gehören Volksverhetzung, Bedrohung und Beleidigung, Sachbeschädigung sowie Androhung von Straftaten. Der Großteil dieser Straftaten wurde von einer Gruppe begangen.

Von Johann Osel

Es ist Ludwig Spaenle, der Antisemitismus-Beauftragte der Staatsregierung, der am Donnerstag die eindringlichsten Worte findet. Der Rubikon sei überschritten, sagte der CSU-Politiker bei der Vorstellung des Lagebilds Hasskriminalität in Bayern 2023: „Jüdische Menschen in diesem Land haben Angst.“ Demnach meiden Studenten jüdischen Glaubens ihre Hochschule, in deren Umfeld sogar zu offener Gewalt aufgerufen werde; jüdische deutsche Staatsbürger seien in ihrem Leben eingeschränkt, zögen sich zurück bei all dem Hass im Alltag und im Netz. Es werde nicht mehr gefragt und diskutiert, ob Israel Kriegsverbrechen begeht, so Spaenle, sondern Israel „als das Böse schlechthin“ sei Ausgangsbasis für Judenhass in kaum vorstellbarer Dimension.

589 antisemitische Fälle von Hasskriminalität im Jahr 2023 verzeichnet das Lagebild der Sicherheitsbehörden, Volksverhetzung, Bedrohung und Beleidigung, Sachbeschädigung, Androhung von Straftaten, vereinzelt Körperverletzung. Das ist ein Sprung im Vergleich zum Vorjahr und fast eine Verdoppelung gegenüber 2019. Generell nehmen sogenannte Hassverbrechen zu, die Gesamtzahl der so deklarierten Straftaten betrug vergangenes Jahr 1867 Fälle. Von 2019 bis 2023 registrierte die Polizei im Freistaat damit ein Plus von rund 84 Prozent. Die Zahl der Gewaltdelikte darunter hat sich binnen vier Jahren verdoppelt; gut jede dritte Straftat fand 2023 im Internet statt. Das alles geht aus einem Lagebild hervor, das Innenminister Joachim Herrmann, Sozialministerin Ulrike Scharf und Justizminister Georg Eisenreich (alle CSU) und eben Spaenle im Innenministerium in München vorgestellt haben.

Laut Definition handelt es sich um politisch motivierte Straftaten, bei denen nach Würdigung der Umstände Anhaltspunkte vorliegen, dass der Täter oder die Täterin aus Vorurteilen gehandelt hat – zum Beispiel wegen der Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit und Hautfarbe, Religion oder Weltanschauung, sexueller und geschlechtlicher Identität oder etwa Behinderung. Herrmann sprach von einer „besonders verwerfliche Form von Straftaten“. Ermittlungen mit dem Verdacht gibt es viel mehr, in der Statistik tauchen am Ende Fälle auf, wo nachweislich diese Motivlage vorlag.

Der Anstieg der antisemitischen Delikte ist laut dem Bericht im Wesentlichen mit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel im Oktober 2023 erklärbar. Doch auch in der rechtsextremistischen Szene stelle Antisemitismus „seit jeher eines der bedeutendsten ideologischen Bindeglieder dar und findet sich regelmäßig auch in Verschwörungserzählungen wieder“. Hier nennt das Lagebild auch die Anknüpfungspunkte zur Corona-Pandemie. Ein Großteil der Straftaten aus Hass insgesamt ist von Rechtsextremen (69 Prozent) begangen worden. Die fallzahlenstärkste Untergruppe betrifft auch nach wie vor das Motiv Fremdenfeindlichkeit. Gestiegen sind aber auch Straftaten in den „Phänomenbereichen“ ausländische und religiöse Ideologie – sie machen gut ein Drittel konkret der antisemitischen Delikte aus.

Hasskriminalität gegen homosexuelle und queere Menschen hat ebenfalls zugenommen – 190 registrierte Straftaten 2023, im Vorjahr waren es nur 96, 2019 lediglich 29. Die Autoren des Lagebilds notieren aber, dass sich in dem Zeitraum sowohl das Anzeigeverhalten als auch die behördliche Erfassung verändert hätten. 14 Körperverletzungen zeigt die Statistik im Detail auf.

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68 Prozent der Hass-Delikte konnten aufgeklärt werden. Unter 1372 ermittelten Tatverdächtigen waren die überwiegende Mehrheit der Verdächtigen Männer und deutsche Staatsbürger. Herrmann sagte: „Zu bedenken ist: Die Zahlen gaben nur die Fälle wieder, die der Polizei bekannt sind. Wir müssen im Bereich Hasskriminalität immer noch von einer hohen Dunkelziffer ausgehen.“

„Hasskriminalität ist keine Bagatelle“, ergänzte Justizminister Eisenreich, man baue die Strukturen der Strafverfolgung dazu aus. Eine bei der Generalstaatsanwaltschaft München angesiedelte Zentralstelle widme sich Verfahren von herausgehobener Bedeutung, an allen 22 Staatsanwaltschaften aber habe man Sonderdezernate für Hasskriminalität. Auch jede Polizeiinspektion hat laut Innenministerium einen Ansprechpartner in dem Bereich. Eisenreich äußerte Kritik an Betreibern sozialer Netzwerke. Die Kooperation der Konzerne bei Ersuchen der Staatsanwälte sei nicht ausreichend, „man kann nicht Gewinne einstreichen und die Probleme sozialisieren“. Der Minister rief alle Bürgerinnen und Bürger zum Einschreiten bei Hassrede im Alltag auf, am Gartenzaun, im Büro oder am Stammtisch – Zuspruch bestärke bekanntlich, Widerspruch bremse.

Sozialministerin Scharf berichtete, ihr Haus fördere und erprobe mit der Polizei einen „proaktiven Beratungsansatz“ für Opfer; also gezielte Vermittlung an Beratungsstellen. Gesellschaftlich müsse gelten: „keine Macht diesen Dumpfbacken“. Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze teilte als Reaktion auf das Lagebild mit, trotz der guten Ermittlungsarbeit der Polizei seien die Gegenmaßnahmen der Staatsregierung nicht ausreichend. Sie forderte unter anderem noch leichtere Anzeigemöglichkeiten in einer „virtuellen Polizeiwache“.

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