Süddeutsche Zeitung

Strafvollzug:Gewalt hinter Gittern

Bayerns Gefängnisse kämpfen gegen Auseinander­setzungen, Suizide und Drogenkonsum unter den Häftlingen. Nach zwei Todesfällen in der JVA Bernau wird dort die Videoüberwachung verstärkt.

Von Paula Trautmann

Zwei Todesfälle in zwei Jahren. Dass Gefangene in einer bayerischen Justizvollzugsanstalt andere Gefangene umbringen, ist laut Justizministerium "extrem selten" und wird deshalb statistisch gar nicht gesondert erfasst. Doch in Bernau am Chiemsee ist genau das nun gleich in zwei Jahren in Folge geschehen. Davor wurde in jüngerer Vergangenheit nur 2008 in Straubing ein Häftling ermordet. Und auch darüber hinaus kämpfen bayerische Gefängnisse mit Gewalt, Suiziden und Drogendelikten.

Der Häftling, der am 8. Oktober bewusstlos in seiner Zelle in Bernau gefunden wurde, starb am Tag darauf im Krankenhaus, laut Obduktion durch "äußere Gewalteinwirkung". Sein Zellengenosse stehe unter Verdacht, teilte das Polizeipräsidium Rosenheim damals mit. Neue Erkenntnisse gebe es keine, es werde noch ermittelt, heißt es auch mehrere Wochen später von dort. Bereits 2019 war ein Gefangener in Bernau nach einer Auseinandersetzung mit einem Mithäftling gestorben.

Das Landgericht Traunstein hat den Täter im Juli wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu weiteren fünf Jahren Haft verurteilt. Für ein besonderes Versagen der Justizbeamten in Bernau gibt es laut Andrea Leonhardt, der Sprecherin des bayerischen Justizministeriums, keine Anhaltspunkte. Nach dem Todesfall 2019 war zunächst wegen unterlassener Hilfeleistung ermittelt worden, doch das Verfahren wurde eingestellt.

Die Vorfälle ließen weder Bedienstete noch Gefangene unberührt, sagt Jürgen Burghardt, der Leiter der Bernauer Justizvollzugsanstalt (JVA). Laut Ministeriumssprecherin Leonhardt lässt die Anstalt nach dem Todesfall von 2019 die Höfe jetzt mit Video überwachen. Die Aufzeichnungen sollen die Aufklärung solcher Fälle künftig erleichtern. Anstaltsleiter Burghardt erhofft sich davon aber auch einen präventiven Effekt. Weitere Konsequenzen wurden nicht gezogen, eine Untersuchung hat laut Burghardt keine Ansatzpunkte ergeben, wie sich gezielte Auseinandersetzungen unter Gefangenen mit Sicherheit verhindern ließen.

Ralf Simon als Vorsitzender des Landesverbandes der Bayerischen Justizvollzugsbediensteten (JVB) und des Hauptpersonalrats sieht das ähnlich. "Man kann nicht die hundertprozentige Garantie geben, dass immer jemand da ist. Letztendlich haben wir nicht so viel Personal", sagt Simon. Zum 31. Oktober saßen in Bayern 10 087 Personen in Haft. Dem gegenüber stehen sehr viel weniger Justizbeamte. 5993 Stellen sind laut Ministerium für den Strafvollzug in Bayern vorgesehen. Doch dass es im Gefängnis zu Handgreiflichkeiten kommt, sei "selbst mit noch so viel Personal" nicht zu verhindern, sagt Simon. "Solche schweren Gewaltübergriffe wie in Bernau sind nicht an der Tagesordnung. Das ist wirklich die absolute Ausnahme."

Der Strafvollzug ist auf Resozialisierung ausgerichtet. Das schafft laut JVA-Leiter Burghardt Freiräume, die trotz Gewaltprävention "leider auch in negativer Weise genutzt werden können". Wolle man Handgreiflichkeiten ganz verhindern, müsse man die Gefangenen so einschränken, dass sie gar nicht mehr aus dem Haftraum dürfen und keine Bewegungsfreiheit auf ihrer Station haben, sagt der Verbandsvorsitzende Simon. "Das will man natürlich auch nicht, das steht ja auch im Widerspruch zur Resozialisierung." Deshalb könne man nur "prophylaktisch" vorgehen. "Was getan werden kann, das wird getan, und da sind wir auch wirklich gut aufgestellt."

Ein "ganz erheblicher Teil" der Inhaftierten sitzt laut Justizministerium ohnehin schon wegen Gewaltdelikten ein. Um weitere Übergriffe möglichst zu verhindern, gebe es unter anderem regelmäßige Gespräche mit Gefangenen, ein ausgewogenes Freizeitprogramm, Videoüberwachung, nötigenfalls eine Einzelunterbringung. Opfer schütze man, indem man sie von den Tätern trenne. Ralf Simon betont das Vertrauensverhältnis zwischen Wachleuten und Gefangenen: "Man sitzt im Dienstzimmer und merkt, da schleicht jemand vorbei, den drückt irgendwas, und man fragt einfach mal nach. Das ist täglich Brot." An einem Vorfall wie in Bernau habe das Personal überhaupt kein Interesse, jeder versuche seine Station ruhig zu halten.

Während in Bayern im Jahr 2013 nur 109 Tätlichkeiten unter Gefangenen registriert wurden, stiegen sie bis 2018 auf 247. Darunter fallen neben Körperverletzung auch Erpressung, Vergewaltigung, Totschlag oder Mord. Doch inzwischen scheint die Zahl zu sinken, 2019 gab es 30 Fälle weniger als im Vorjahr. Die Gründe für Gewalt seien vielfältig, sagt Ministeriumssprecherin Leonhardt. "Eine Rolle spielen wahrscheinlich die allgemein steigende Gewaltbereitschaft sowie der stetig wachsende Anteil psychisch auffälliger Gefangener." Die Häftlinge attackieren sich nicht nur gegenseitig, sondern sie gehen auch auf Justizbeamte los.

"Wenn jemand auf Entzug ist, führt es dazu, dass er gewaltbereiter ist"

Erfasst werden aber nur Körperverletzungen, Geiselnahmen und Freiheitsberaubungen, da es sich dabei laut Leonhardt um "besonders gravierende, die Bediensteten massiv beeinträchtigende Übergriffe handelt". Solche Fälle wurden seit 2010 immer mehr und erreichten 2016 mit 65 Fällen einen Höhepunkt. Seither sinken die Zahlen. Dass dabei Beleidigungen und Drohungen gar nicht erfasst werden, sieht JVB-Vorsitzender Simon aber als Problem. Das Finanzministerium entwickle derzeit ein neues Gewaltschutzkonzept für Staatsbedienstete im Allgemeinen. "Das ist unsere große Hoffnung, das spiegelt dann auch das tatsächliche Bild wider", sagt Simon. Laut Leonhardt soll auch das Konzept zur Gewaltprävention aktualisiert werden.

Einen Grund für viele Probleme sieht Simon in der Drogenabhängigkeit von Gefangenen. "Wenn jemand auf Entzug ist, führt es dazu, dass er gewaltbereiter ist." In der Gerichtsverhandlung wegen des Todesfalls 2019 hieß es, dass der Angeklagte täglich Drogen konsumiert habe, auch am Tattag. Nachweisen ließ sich das nicht. "Das Einbringen von Drogen in die Anstalten lässt sich nie ganz ausschließen, da es schon allein zur Resozialisierung Außenkontakte der Gefangenen geben muss", sagt dazu Leonhardt. Besuche, Briefverkehr, Vollzugslockerungen oder Freigang erhöhen die Gefahr. Mit Durchsuchungen, Urintests oder Spürhunden halte man dagegen, aber auch mit Betreuungs- und Behandlungsangeboten. Über Drogendelikte im Gefängnis kann das Justizministerium nach eigenen Angaben aber nichts sagen, da diese nicht zentral erfasst würden.

Was Todesfälle in Gefängnissen betrifft, so gibt es dort weit weniger Morde als Suizide. Laut Ministerium achte man bereits bei der Aufnahme auf eine mögliche Suizidgefahr, das Thema sei immer wieder Gegenstand der Aus- und Fortbildung. Dennoch gab es in Bayerns Haftanstalten in den vergangenen zehn Jahren jeweils zwischen sechs und 17 Suizide pro Jahr.

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SZ vom 23.11.2020/vewo/van
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