Landleben in Bayern:"Das sind unwichtig wichtige Geschichten"

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Hans Prockl, Landleute, Oral History, Fotos: Prockl (Foto: N/A)

Der Autor Hans Prockl hat über Jahrzehnte Geschichten gesammelt. Bei ihm kommen Leute zu Wort, die sonst nicht im Mittelpunkt stehen.

Von Hans Kratzer, Buchbach

Am Ostermontag des Jahres 1978 hat in einer Wohnküche im Isental ein bemerkenswertes Gespräch stattgefunden, dessen Inhalt nur deshalb bekannt ist, weil es der Dokumentarist Hans Prockl mit einer Filmkamera aufgezeichnet hat. Damals unterhielt sich Isidor Hein, Wagner, Bauhilfsarbeiter und Totengräber, mit seinem aus Kenia stammenden Gast Iqbal. Man muss berücksichtigen, dass Afrikaner in jener Zeit auf dem bayerischen Land noch eine Seltenheit waren. Der Ise, wie Hein genannt wurde, hat bis zu seinem Tod im Jahre 1989 sein Heimatdorf nur selten verlassen, aber er war ein begnadeter Erzähler. Prockl ist mehr als 40 Jahre danach immer noch fasziniert von diesem Zwiegespräch und von der Offenheit, die der wenig welterfahrene Ise seinem Gast entgegenbrachte, als sie im wortreichen Dialog Parallelen und Unterschiede zwischen dem Leben in Kenia und im Isental herausarbeiteten.

Prockl hat das Gespräch später in Textform übertragen, "da ließ ich nichts weg, es ist authentisch". Nun hat er, weil es ihm wichtig war, im Selbstverlag ein Buch veröffentlicht, das außer dem Gespräch Ise-Iqbal noch elf weitere Interviews aus einem Zeitraum von 1965 bis 2018 enthält. Von der Verkäuferin bis zum Lastwagenfahrer, vom Lehrer bis zum Totengräber geben die Menschen der Jahrgänge 1888 bis 1966 packende Auskunft über Herkunft und Beruf, über Lebensverläufe und Gewohnheiten. Die Sammlung eröffnet ein unvergleichliches Potpourri des Landlebens der vergangenen 50 Jahre, in denen der Fortschritt wie eine Sturzwelle übers Land schwappte und sich mehr verändert hat als in vielen Jahrhunderten vorher.

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Die Methode, solche Gespräche medial aufzuzeichnen, nennt man Oral history, mündlich überlieferte Geschichte. Wie Prockl sagt, soll damit vor allem jenen Menschen eine Stimme verliehen werden, die von der traditionellen Geschichtsschreibung kaum beachtet werden. Prockl fand seine Gesprächspartner vor allem im Isental, von der Gemeinde Lengdorf (Landkreis Erding) bis hinunter nach Schwindegg und Buchbach (Landkreis Mühldorf).

Schon früh verspürte der 1948 geborene Prockl den Drang, Lebensläufe und Menschen zu dokumentieren. Warum dies so ist, kann er selber nicht erklären. "Es ist so ähnlich wie die Leidenschaft des Bergsteigers, das lässt einen nicht mehr los", sagt er. 1964 kaufte er sich vom Lohn eines Ferienjobs ein Tonbandgerät. Damit begannen seine Radiomitschnitte, Geräusche-, und Gesprächsaufzeichnungen. 1978 begann er zu filmen und zu fotografieren. Vor fünf Jahren brachte Prockl den Fotoband "Menschen aus der Region Buchbach-Schwindegg" heraus, in dem er Frauen und Männer am Arbeitsplatz ablichtete.

Prockl hat in München 37 Jahre lang an Schulen der Stiftung Pfennigparade die Fächer Mathematik, Physik, Informatik und Dokumentarfilm unterrichtet. Als Rentner zog er zurück aufs Land, in das Dorf Wörth im Isental, wo er nun inmitten jener "Landleute" lebt, deren Leben ihn so fasziniert. "Das gfreit mi narrisch", sagt er, dass auch seine Wörther Nachbarn Ayse und Mehmet Aritoprak, beide Jahrgang 1939, das Projekt mit ihrer Lebensgeschichte bereicherten. Die Eheleute stammen aus Kappadokien, 1972 kamen sie nach Deutschland, angeworben, um in einem Holzwerk zu arbeiten. Heute pflegen sie zusammen einen wunderschönen Blumen- und Gemüsegarten. "Ich bin der Arbeiter", sagt Mehmet lachend, "und Ayse ist die Planerin."

Das Buch ermöglicht Einblicke in die Veränderungen des Denkens der Landbevölkerung im Sog von umwälzenden Veränderungen und Neuerungen wie Computer, Internet, Mobilität und Wohlstand. Man findet Antworten auf viele Fragen. Was trägt die Menschen in solchen Zeiten, welche Haltung legen sie an den Tag, wie verändert sich ihre Einstellung zu Politik und Umwelt? Wie entschleunigt und leger das Leben früher war, davon erzählt Gust, der Lastwagenfahrer, dessen Lehrmeister ein miserabler Autofahrer war, weshalb er oft den Lehrbub Gust ans Steuer setzte. Die Polizei habe das akzeptiert, sagt er, "weil die gesagt haben, der fährt immer noch besser wie der Chef". So ist er die ganze Lehrzeit schwarzgefahren. "Das sind unwichtig wichtige Geschichten", sagt Prockl.

Manchmal sind die Dialoge bühnenreif, wie jene Begegnung von Prockl Vaters mit dem Oberlehrer Karl Hiebel am 18. September 1965, ein Gespräch zweier Heimatvertriebener. Ein Auszug. Oberlehrer: "... also der Strauß, der is a ganz gscheiter Kerl!" Vater Prockl: "...ein ganz ein gscheiter Kerl!" Oberlehrer: "...ein ganz gscheiter Kerl!" Vater: "Über 90 Reden hat er gführt!" Oberlehrer: "ein ganz gscheiter Kerl!" Vater: "...ganz enorm, ganz enorm ...!"

Das Buch "Landleute - Gegenwart, Vergangenheiten, erzählte Geschichte" ist beim Autor erhältlich (hans.prockl@t-online.de) oder in Buchhandlungen in den Landkreisen Erding, Landshut und Mühldorf. Auf dem Kanal Youtube findet man eine Auswahl an Filmen (Stichwort "Hans Prockl").

© SZ vom 26.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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