Süddeutsche Zeitung

Reichsgründung vor 150 Jahren:"Bayern ist eine lebensunfähige politische Missbildung"

Die Gründung des deutschen Kaiserreiches löste im Landtag eine wahre Redeschlacht aus. Sie zählt zu den bedeutendsten politischen Debatten der bayerischen Geschichte.

Von Hans Kratzer

Für jene gar nicht so wenigen Bayern, die damals der aufwallenden nationalen Begeisterung skeptisch begegneten, war die Kaiserproklamation vom 18. Januar 1871 eine Demütigung. Als der preußische König Wilhelm I. im Spiegelsaal des Versailler Schlosses zum deutschen Kaiser erhoben wurde, war die Debatte im bayerischen Landtag, die am 11. Januar begonnen hatte, noch in vollem Gange. Kanzler Otto von Bismarck aber setzte den Termin fest, ohne die Annahme der Verträge durch den Landtag abzuwarten.

Er wollte Tatsachen schaffen, denn auch er sah, dass die Gemütslage in Teilen Bayerns durch die Folgen des deutsch-französischen Kriegs in den Keller sank. Bayern war im Sommer 1870 an der Seite Preußens in den Krieg eingetreten, seine Armeekorps durften mitsiegen, bezahlten diesen Ruhm aber mit jeder Menge Blut: Tausende bayerische Soldaten starben und wurden verwundet. Viele Kämpfer kehrten zerlumpt und völlig erschöpft zurück. Kein Wunder, dass der Ton von da an schärfer wurde. Johann Baptist Sigl nannte in der Zeitschrift Das bayerische Vaterland die neue deutsche Kaiserkrone "nur die vergrößerte preußische Pickelhaube" und bilanzierte vorweg: "Mehr Kriege, mehr Krüppel, mehr Totenlisten und mehr Steuerzettel . . ."

Doch bei aller Wut auf die Preußen: Vor allem das Wirtschaftsbürgertum in Industriestädten wie Augsburg und Nürnberg wünschte sich ein neues deutsches Reich unter preußischer Führung. Sie versprachen sich davon neue Absatzmärkte. Überdies hatte die erste bayerische Kammer, der Reichsrat, bereits am 30. Dezember 1870 dem Versailler Vertrag über die Bildung des Deutschen Reichs zugestimmt, der am 1. Januar 1871 in Kraft trat. Die dem Reichsrat angehörigen Herren betrachteten das einschneidende Ereignis eher als Nebensache. Auf der Tagesordnung rangierte es hinter den Themen Hausschlachtung und Gehaltserhöhung eines Gerichtsboten. Nur drei Mitglieder votierten gegen den Vertrag. In der zweiten Kammer des Landtags wurde dagegen zehn Tage lang debattiert, ob das Königreich Bayern selbständig bleiben oder Teil des neuen Deutschen Reichs werden sollte. Letztlich wurde die Reichsverfassung auch dort mit knapper Zweidrittelmehrheit akzeptiert.

Aus heutiger Sicht zählt diese Redeschlacht in der zweiten Kammer des Landtags zu den bedeutendsten politischen Debatten in der bayerischen Geschichte. Ihre Wirkung reiche bis in die Gegenwart herein, sagt Richard Loibl, der Direktor des Hauses der Bayerischen Geschichte. Auf diese Debatte habe man in Bayern immer dann verwiesen, wenn es um die Frage ging, wie sich Bayern zu Deutschland stellen sollte. Während der Auseinandersetzung um das deutsche Grundgesetz hatte sich 1949 beispielsweise Josef Baumgartner, der spätere Vorsitzende der Bayernpartei, auf die patriotischen Vorgänger berufen, vor allem auf den Abgeordneten Edmund Jörg, der 1871 mit geradezu prophetischen Worten vor dem Eintritt Bayerns in das Deutsche Reich gewarnt hatte: "Wir können nicht, weil das für Deutschland die Katastrophe, den Weltkrieg und den Untergang bedeuten würde!"

Die Skeptiker gehörten vor allem der Patriotenpartei an, die mit ihrer Mehrheit die Abgeordnetenkammer dominierte. Sie waren allein schon durch den Historiker Heinrich von Treitschke abgeschreckt, der geschrieben hatte: "Bayern ist eine lebensunfähige politische Missbildung, recht eigentlich ein Zwerg mit einem Wasserkopf, und Preußens Aufgabe besteht darin, Bayern zu zerschlagen . . ." Ein Schwerpunkt der Reichsgegner lag in Niederbayern. Das Haus des Rechtsanwalts August Wisnet (1810-1893) kennt man in Passau noch heute als das "Wisnet-Haus".

Nach dem Hauptredner der Patrioten, dem Historiker Edmund Jörg (1819-1901), ist eine Straße bei der Trausnitz in Landshut benannt. Jörg gilt als einer der markantesten Politiker und Publizisten des deutschen Katholizismus. Er war der Wortführer der Patriotenpartei, seine Vision bestand bereits damals aus einem vereinten Europa, in dem die Regionen ihr Gewicht behalten sollten. Im historischen Urteil wurden die Patrioten oft als rückständige Separatisten beurteilt. In Niederbayern und in der Oberpfalz sah man das anders, weiß der gebürtige Niederbayer Loibl. Denn das neue Deutsche Reich bedeutete dort, dass Österreich Ausland und Bayern Grenzland werden würde.

Die Debatte war geprägt von scharfen patriotischen Angriffen gegen "hohenzoller'sches Erbkaisertum, Nationalismus und Militarismus". Die Reichsverfassung, so schimpfte man, vernichte für die Zwecke der absolutistisch-militärischen Hegemonie Preußens alles parlamentarische, alles freiheitliche Leben. Dass der Landtag damals überhaupt mitreden durfte, war der bayerischen Verfassung von 1818 zu verdanken. Demnach musste er mit Zweidrittelmehrheit einer Verfassungsänderung zustimmen. "Und die stellte der Reichsbeitritt zweifellos dar", sagt Loibl. Damit das Votum die erforderliche Zweidrittelmehrheit für das Reich erbringen konnte, musste die Patriotenpartei gespalten werden, was die Redeschlacht befeuerte.

König Ludwig II. und die Regierung hatten den Verträgen bereits zugestimmt, und auch alle bayerischen Bischöfe begrüßten das Deutsche Reich. Entsprechend hoch war der Druck auf die Geistlichen in der Patriotenpartei. Doch bei nüchterner Betrachtung stand längst fest, dass eine Alternative zum Reichsbeitritt nicht mehr bestand. Mit jedem Tag wurde die Gruppe der Befürworter größer. Am Ende stimmten 102 Abgeordnete für den Beitritt Bayerns zum Deutschen Reich, 48 bayerische Patrioten stimmten dagegen. Die Zweidrittelmehrheit war knapp erreicht.

Die Verlierer wurden als Hinterwäldler und Eigenbrötler verächtlich gemacht. Man kann aber auch sagen, dass sie sich einen offenen Blick in die Zukunft bewahrt hatten. Sie hatten die Gefahren der Reichsgründung erkannt. "Die Sucht, die Herrschaft über Europa zu bekommen, liegt zu Grunde, und diese Anspannung aller Kräfte wird auch in nächster Zeit zum Kriege führen", warnte der Jurist Adolph Krätzer aus Grafenau. Für Loibl besteht das Vermächtnis dieser Abgeordneten fort. Es steht gegen Zentralismus und Militarismus, für eine neue dauerhafte Friedensordnung und bürgerliche Grundrechte.

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SZ vom 19.01.2021/van/syn
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