Im ersten Moment, als Jennys Freund die Augen schloss, mit einem leisen Stöhnen, das auch ein Zeichen von Wohlbefinden hätte sein können, da hat sie nicht einmal aufgeschaut. Sie kannte das ja. Jenny und ihr Freund hatten sich gerade Spritzen gesetzt.
Und wer Mitte zwanzig ist und alles zu sich nimmt, was knallt, sei es Heroin, Crack oder Alkohol, der glaubt das eben zu kennen, erzählt Jenny: Man erwischt ein bisschen viel. Man nickt ein bisschen ein. Man wacht wieder auf. "Ich habe mich nur gefragt: Wie lange döst er jetzt?"
Der Freund hatte nicht nur ein bisschen viel erwischt. Und er wäre, nachdem die Überdosis Heroin sich in seinem Blutkreislauf verteilt und das Herz zu schlagen aufgehört hatte, auch nicht wieder aufgewacht - wenn nicht wenige Minuten später ein Notarzt sein Hemd aufgerissen und ihm das Medikament Naloxon gespritzt hätte, das die Wirkung von Heroin aufhebt.
Jenny, die in Wahrheit anders heißt, erzählt diese Geschichte mit einigen Jahren Abstand, in weich dahinrollendem Fränkisch. Sie bittet ihre kleine Tochter ein paar Mal, das Gespräch nicht zu stören und zum Papa ins Wohnzimmer zu gehen. Jenny ist weg von den Drogen, sie arbeitet in der Verwaltung der Nürnberger Drogenhilfseinrichtung Mudra. Ein Bürojob, ein Traumjob, wie sie sagt.
Die Familie wohnt in einem sehr bürgerlichen Viertel von Nürnberg. Die Nachbarn kennen ihr Vorleben nicht - und also auch nicht die Geschichte, wie Jennys früherer Lebensgefährte einmal fast gestorben wäre und wie Jenny damals lernte, was im Umgang mit einer Überdosis das Wichtigste ist: dass man sie überhaupt als solche erkennt.
Die Rettung war damals nah, zum Glück: Jenny und ihr Freund hatten sich ihre Spritzen in einem Drogenkonsumraum im Frankfurter Bahnhofsviertel gesetzt, wo Süchtige unter Aufsicht konsumieren konnten. Deshalb wurde schnell Alarm geschlagen, obwohl Jenny den Ernst der Lage verkannt hatte. In den kritischen Minuten, bis die Notärzte eintrafen, massierten zwei Sozialarbeiter das Herz von Jennys Freund. So kam es, dass der junge Mann an diesem Tag nicht in die Statistik der Drogentoten einging.
Das Pärchen verließ bald darauf die Stadt und zog zurück nach Mittelfranken. Vom wilden Frankfurter Bahnhofsviertel ins vergleichsweise beschauliche Nürnberg - das klingt wie ein Umzug in ruhigere Gefilde. Doch der Schein trügt: Für Drogenabhängige kann Nürnberg sogar noch um einiges gefährlicher sein als Frankfurt.
In Nürnberg starben im Jahr 2010 fast sechs Menschen pro 100.000 Einwohner im Zusammenhang mit Drogen. Nirgends in Deutschland ist diese Zahl höher. Die vielen Drogentoten sind kein Problem allein von Nürnberg, sie sind ein Problem ganz Bayerns: Bis vor wenigen Jahren führte Augsburg die Statistik an.
2010 starben im Freistaat 262 Menschen an einer Überdosis, lediglich in Nordrhein-Westfalen waren es noch mehr. Während die Zahlen dort wie in den meisten Bundesländern jedoch rückläufig sind, zeigen sie in Bayern aktuell weiter nach oben.
Konsumräume, wo Sozialarbeiter den Notarzt alarmieren und mit Herzmassagen helfen können, gibt es in Bayern nicht. Räume, wo unter Aufsicht und mit sauberen Spritzen konsumiert wird, sind seit dem Jahr 2000 zwar grundsätzlich zulässig, jedes Bundesland hat die Möglichkeit, sie zu erlauben. Sechs Bundesländer - Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und das Saarland - haben das getan. Bayern jedoch nicht.
Es ist natürlich nur eine Vermutung, wenn Jenny heute sagt: In Bayern, wo es keine Konsumräume gibt, wäre mein Freund sicher an seiner Überdosis gestorben. Sicher beweisen lasse sich ein Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein von Konsumräumen und sinkenden Todeszahlen nicht, sagt Bertram Wehner, der Leiter der Nürnberger Drogenhilfseinrichtung Mudra. Aber es falle doch auf, dass die Zahl der Drogentoten dort zurückgehe, wo Konsumräume eröffnet würden.
Die bayerische Landesregierung ist da skeptisch: Fixerstuben würden Drogendealer anlocken, das Problem also eher noch verschärfen, argumentiert das Innenministerium - und bleibt deshalb hart: "Wir dulden keine offenen Drogenszenen, die den Zugang zu Drogen erleichtern."
Wehner kennt die Bedenken. "Es kann natürlich nicht sein, dass ein 16-Jähriger einfach vorbeikommt und harte Drogen konsumiert", sagt er. Sozialarbeiter, die einen Konsumraum eröffneten, müssten hohe Standards wahren. Aber das würde man in Nürnberg ohne weiteres leisten können.
Wie es geht, hat zum Beispiel Jenny in ihrer Frankfurter Zeit erlebt: Am Eingang der Fixerstube wurde jeder Besucher nach seinem Ausweis gefragt und danach, was er zu konsumieren gedenke. Es gab lange und kurze Nadeln zur Auswahl, Jenny entschied sich immer für kurze, weil sie in die Hände injizierte. Dazu bekam sie einen in Alkohol getränkten Wattebausch zum Desinfizieren. Und im Wartezimmer hingen die Regeln aus: Mit offenen Nadeln nicht durch den Raum gehen. Den eigenen Platz nach Gebrauch desinfizieren.
In München hört man inzwischen, dass sich Heroinabhängige selbst zu Gruppen zusammenschließen, die in festen Räumen konsumieren, wie Rainer Musselmann sagt, der Leiter der Münchner Drogenhilfseinrichtung Concept - "unter gegenseitiger Aufsicht".