Wildverbiss und Jagd:Geht es der Gams zu gut?

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Gämsen sind in der bayerischen Alpenregion weit verbreitet, zu dem Ergebnis kommt eine Studie. Jäger sorgen sich trotzdem um den Bestand. (Foto: Mauritius)

In der Region um Kempten wollen die Bayerischen Staatsforsten die Abschusszahlen für Gämsen deutlich erhöhen. Tierschützer und Jäger sprechen von "Ausrottung", doch wissenschaftliche Daten stützen die Forstleute.

Von Christian Sebald, München

Gewöhnlich leben Gämsen oben in den Bergen, wo der Wald aufhört und die Almen und Felsen anfangen. Bisweilen zieht es sie auch hinaus ins Alpenvorland. Auf die Kürnach zum Beispiel, einen gut tausend Meter hohen Waldrücken westlich von Kempten. Dort tummeln sich so viele Gämsen, dass die Staatsförster dieses Jahr doppelt so viele abschießen lassen wollen wie in der Vergangenheit. Der Grund: Die Tiere fressen die jungen Bäume so ab, dass der Wald nicht mehr richtig nachwächst. Die Jäger sind empört. "Stoppt den Abschuss der Gams in der Kürnach", fordert der Bayerische Jagdverband (BJV). Die Tiere stünden unter "besonderem Schutz" der EU, und Vorberge wie die Kürnach zählten seit jeher zu ihren Lebensräumen. Nun aber befürchtet der BJV, dass die Gämsen dort "gänzlich ausgerottet werden sollen".

Der Streit um die Gämsen tobt nicht rund um die Kürnach. Überall entlang der bayerischen Alpen reden sich die Jäger darüber die Köpfe heiß - an Stammtischen und bei BJV-Treffen, auf Tagungen und im Internet. Nun hat Agrarministerin Michaela Kaniber ein Machtwort gesprochen. "Der Gams geht's gut", sagt sie unter Berufung auf ein Forschungsprojekt. "In den Bergen sind auch heuer wieder viele Gämsen unterwegs." Die ersten Ergebnisse der Untersuchungen deuteten auf stabile und vitale Populationen hin. Damit Wanderer und Touristen die Tiere noch besser erleben können, werden nun Beobachtungsplattformen in den Bergen eingerichtet. Die ersten beiden sollen noch diesen Herbst am Wallberg am Tegernsee und an der Benediktenwand im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen aufgestellt werden.

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Viele Jäger, aber auch Tierschützer wie Tessy Lödermann, die Vizepräsidentin des Tierschutzbunds in Bayern, dürfte Kanibers Machtwort empören. Ihrer Überzeugung nach steht es nämlich schlecht um die Gämsen, sehr schlecht sogar. "Katastrophale Verhältnisse", "überjagt" und "instabile Bestände" sind noch vergleichsweise harmlose Formulierungen. Auch an anderen Orten als der Kürnach wird von "Ausrottung" gesprochen. Die Schuldigen sind dabei stets die Staatsförster und die Chefs der staatlichen Forstbetriebe. Sie lassen die Gämsen angeblich erbarmungslos abschießen. Darin sind sie sich einig an den Jäger-Stammtischen und bei BJV-Treffen, auf Tagungen und im Internet. Die Tierschützerin Lödermann hat unlängst sogar Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht, weil der Umgang mit der Gams ihrer Überzeugung nach gegen EU-Vorgaben verstoße.

Wegen dieses Streits hat der damalige Forstminister Helmut Brunner 2016 ein aufwendiges Forschungsprojekt über die Gämsen in Bayern gestartet. Der sperrige Titel lautet: "Integrales Schalenwildmanagement im Bergwald" - denn es geht nicht nur um Gämsen, sondern auch um Rotwild und Rehe. Leiter des Projekts ist Alois Zollner, der Chef der Abteilung Biodiversität, Naturschutz und Jagd an der Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF). Über sechs Jahre hinweg begutachten Zollner und seine Leute in zwei ausgewählten Regionen an der Kampenwand und im Vorkarwendel im Isartal den Zustand der Gämsen-Populationen. Dazu führen sie nicht nur Tierzählungen durch, sondern sie haben auch ein dichtes Netz Fotofallen eingerichtet. Ausgewählten Geißen und Böcken haben sie GPS-Sender umgeschnallt. Aus dem Kot der Tiere gewinnen die Forscher Genmaterial.

Mit den Daten soll nicht nur die Zahl der Gämsen, des Rotwilds und der Rehe in den beiden Regionen bestimmt werden, sondern auch das Geschlechterverhältnis und der Altersaufbau der jeweiligen Population. Außerdem wollen die Forscher herausfinden, wie sich die Wildtiere in den jeweiligen Revieren verteilen. Seit vergangenem Winter untersuchen sie außerdem, wie viele Gämsen, Rotwild und Rehe in der kalten Jahreszeit durch den vielen Schnee, aber auch durch Lawinenabgänge umkommen. "Das Projekt ist extrem aufwendig", sagt der LWF-Mann Zollner. "Aber wenn wir die Forschungen 2022 abgeschlossen haben, können wir Aussagen zum Jagdmanagement treffen und den Förstern und Jägern Entscheidungshilfen anbieten."

Eines zeichnet sich nach der Halbzeit bereits ab: Die Gämsen-Population in Bayern ist vital und stabil. Allein im Vorkarwendel zwischen Vorderriß und Soiernkessel leben laut Zollner "deutlich mehr als 500 Gämsen". Die Bergziegen sind damit die Nummer eins in der Region - vor dem Rotwild. "Das ist ein starkes Ergebnis", sagt Zollner - und es deckt sich mit den Zählungen des örtlichen Forstbetriebs. Das wiederum hat eine Bedeutung über die Region hinaus. Die Gämsen werden nämlich überall in den bayerischen Bergen gezählt. Wenn nun in einer Region Forschung und Zählung zu einem vergleichbaren Ergebnis kommen, bescheinigt dies der Zählung eine hohe Aussagekraft. Damit dürfen sich alle Experten bestätigt sehen, die sagen, dass in den bayerischen Bergen 16 000 bis 20 000 Gämsen leben - obwohl gut 4000 Stück pro Jahr abgeschossen werden.

Beim BJV gibt man sich gleichwohl sehr zurückhaltend. "Die Zahl der Gämsen in einem Untersuchungsgebiet hat nur einen geringen Informationsgehalt", sagt BJV-Sprecher Thomas Schreder. "Außerdem gibt es bisher keine Informationen über das Geschlechterverhältnis oder die Altersstruktur. Sie sind aber für eine intakte Gams-Population von entscheidender Bedeutung." Gewiss ist deshalb: Der Streit um die Gämsen wird mit unverminderter Härte weitergehen. Derzeit vor allem in der Kürnach. Auch wenn der zuständige Staatsforstbetrieb dort ein ums andere Mal betont, "dass wir die Gämsen hier auf keinen Fall ausrotten wollen und werden".

© SZ vom 13.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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