Unter Bayern:Die Boomer und das Vermächtnis der Zeitzeugen

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Der Sprecher der ehemaligen Häftlinge des Konzentrationslagers Flossenbürg, Jack Terry, posiert während eines Festaktes zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg in der KZ-Gedenkstätte für ein Foto. Terry ist im Alter von 92 Jahren gestorben. (Foto: dpa)

Mit Jack Terry ist einer der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Flossenbürg gestorben. Es fehlen die Stimmen, die daran erinnern, dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist.

Kolumne von Sebastian Beck

Am vergangenen Sonntag starb Jack Terry, ein Überlebender des Konzentrationslagers Flossenbürg und einer der letzten Zeitzeugen des Holocaust, auch wenn er solche Zuschreibungen für sich stets ablehnte. Die Zeit des Nationalsozialismus rückt damit immer weiter in historische Ferne. Bei Menschen, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren geboren wurden und neuerdings mit dem Begriff Boomer als zurückgeblieben diffamiert werden, löst das merkwürdige Gefühle aus.

Es gab in ihrer Jugend so etwas wie eine politische und moralische Nulllinie, die von einem Datum markiert wurde: dem 8. Mai 1945. Die Bundesrepublik war damals noch ein junges, im Grunde optimistisches Land, über dem aber der Schatten der ungeheuerlichen Verbrechen hing, die von der Elterngeneration begangen wurden. Quasi alle öffentlichen Debatten, aber auch die Diskussionen im Unterricht, sie hatten letztlich immer diesen einen Bezugspunkt: die Zeitenwende 1945.

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Wer heute Reden von Politikern aus den Siebzigern oder Achtzigern hört, beispielsweise von Franz Josef Strauß, der erkennt erst mit dem Abstand von Jahrzehnten, wie stark die Wortwahl noch von der NS-Zeit geprägt war. Durch die Straßen humpelten Kriegsversehrte auf ihren Holzprothesen, auf Kameradschaftstreffen glorifizierten die Veteranen ihre Taten. Insbesondere auf dem Land herrschte das große Schweigen über die Vergangenheit, obwohl viele Täter und Opfer noch lebten, manchmal nur ein paar Häuser voneinander getrennt. Wer wird denn ehrenwerte Bürger anschwärzen mit den alten Geschichten?

Die Sprachlosigkeit wurde erst spät gebrochen, als Menschen wie Jack Terry und Max Mannheimer den Mut fassten und aus der Perspektive der Opfer berichteten, was man ihnen angetan hatte. Ihr Zeugnis war zugleich mit der Aufforderung verbunden, die demokratischen Werte des Landes zu verteidigen.

In ein paar Jahren werden die letzten Zeugen gestorben sein. Aber schon jetzt zeigt sich, dass das Jahr 1945 als historischer Bezugspunkt seine Bedeutung fast vollständig verloren hat. Stattdessen zerfleischt sich die Öffentlichkeit in Debatten über Identität und allerlei Klein-Klein. Als Boomer kann einem da manchmal Angst werden, weil die Stimmen derjenigen fehlen, die immer wieder daran erinnern, dass die deutsche Demokratie ein großes Vermächtnis ist.

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