Filmtipp: Perlen der Fernsehgeschichte:Geschichten aus einer verlorenen Welt

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Einer der Schätze aus dem Archiv ist der Beitrag der Filmemacherin Lis Klatt aus dem Jahr 1965, eine Hymne auf den Münchner Stadtteil Schwanthaler Höhe und dessen Bewohner. (Foto: BR)

Miniröcke bei Männern, Schulweg eines Mädchens in den 60er-Jahren, Interview mit dem Vorreiter von König Ludwig II.: Auf dem Kanal ARD alpha kann man Schätze der Fernsehgeschichte aus dem Archiv des Bayerischen Rundfunks anschauen. Ob das Archiv auch in Zukunft noch betreut wird, ist wegen der Sparzwänge jedoch offen.

Von Hans Kratzer, München

Der Reporter Rudolf Crisolli hatte Flugangst. Das war verständlich, denn im Juni 1968 hatte er in Indien nur knapp einen Flugzeugabsturz überlebt. Am 21. Februar 1970 flog Crisolli aus beruflichen Gründen von Zürich nach Israel. Er mied die von Terroristen bedrohte israelische Fluggesellschaft El Al und buchte einen vermeintlich sicheren Swissair-Flug. Aber das Schicksal meinte es nicht gut mit Crisolli. Ausgerechnet in jener Maschine, die er für sicher hielt, explodierte eine Bombe. Alle Insassen kamen ums Leben.

Im Archiv des Bayerischen Rundfunks (BR) stößt man häufig auf den Namen Crisolli. Der junge Mann hatte sich rasch vom Kabelträger zum Auslandskorrespondenten hochgearbeitet, wie sich der BR-Archivar Wolfgang Habermeyer erinnert. Am 12. August 1960 lief Crisollis erste Reportage in der Abendschau.

Eine besondere Geschichte erzählt Crisollis Kurzfilm „Herr Vogl geht zu Fuß zur Wiesn“ aus dem Jahr 1961. Der Landwirt Albert Vogl aus Moos bei Plattling musste wegen einer Wette gut 140 Kilometer zu Fuß nach München wandern, und zwar in weniger als 48 Stunden. Crisolli begleitete den strumpfsockert marschierenden Vogl ein Stück des Weges mit der Kamera. Tatsächlich schaffte dieser die Strecke in nur 38 Stunden. Danach war er um 300 Mark reicher, und sein Durst auf der Wiesn war entsprechend groß.

Die Archive von ARD und BR sind eine schier unerschöpfliche Fundgrube. Der Mann, der dieses filmische Biotop erforscht und auswertet, tut dies in einem Büro, das etwas versteckt im hintersten Eck des BR-Geländes in Freimann liegt. Abseits vom Trubel lassen sich wohl am besten jene Preziosen ausfindig machen, die seit 2018 regelmäßig in der Sendereihe alpha-retro im Bildungskanal ARD alpha ausgestrahlt werden.

Der 66-jährige Habermeyer besitzt den Riecher, den man beim Durchforsten der Archive unbedingt braucht. Mit ein paar Klicks am Computer ist man zwar schnell mittendrin. In diesem Wust an Filmmaterial aber die Perlen zu finden, das sei eine andere Sache, wie der promovierte Ethnologe selber zugibt. 

„Ich suche nicht immer etwas Bestimmtes, aber ich finde immer etwas Tolles.“ Nach diesem Motto arbeitet Wolfgang Habermeyer, der das Archiv des Bayerischen Rundfunks betreut. (Foto: Hans Kratzer)

Beim Ortsbesuch in Freimann zeigt er dem Besucher als erstes einen Beitrag über einen Studentenkongress in Marburg im Jahr 1969. Ein Reporter fing dort Reaktionen zur neuen sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP ein. Unter anderem ist ein Münchner Jurastudent zu sehen, der am Rednerpult wettert, die CSU habe die NPD rechts überholt. Schaut man genau hin, erkennt man, dass der forsche Jüngling Peter Gauweiler hieß. „Man muss schon ein gewisses Alter haben, um die Leute in ihrem Frühstadium zu erkennen“, sagt Habermeyer schmunzelnd.

Ergänzend zu seinem Lehrauftrag an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität stieg der an einen Universalgelehrten erinnernde Habermeyer 1998 beim BR ein, wo er sich unter anderem um das Archiv kümmerte. Sein Motto: „Ich suche nicht immer etwas Bestimmtes, aber ich finde immer etwas Tolles.“ 

Vor Jahren stieß er auf ein 1964 geführtes Interview mit einem fast 100-jährigen Mann namens Fritz Schwegler. „Da ist mir wirklich ein Schauer übers Gnack gelaufen“, sagt Habermeyer. Schwegler war der Vorreiter von König Ludwig II., den er bei dessen Ausfahrten oft begleitet hatte. „Ein unglaublicher Fund“, sagt Habermeyer: „Wir können damit im 21. Jahrhundert einen Blick zurück in die Mitte des 20. Jahrhunderts werfen und einem Mann zuhören, der als Zeitzeuge über den Märchenkönig aus dem 19. Jahrhundert spricht.“

Einen Großteil von Habermeyers Arbeitszeit fressen allerdings rechtliche Fragen. Oft lauert die Gefahr dort, wo man sie gar nicht vermutet. Habermeyer nennt als Beispiel eine alte Quizsendung, in der ein kurzer Einspieler eines James-Bond-Streifens zu sehen ist. Übersieht man so etwas vor der Ausstrahlung, seien Tausende Euro Lizenzgebühren fällig.

Für jene Beiträge, die bis 1966 erstellt wurden, gelten solche Rechtsfragen zum Glück noch nicht. Gerade damals sind großartige Filme entstanden, die zu Dutzenden in der ARD Mediathek zu finden sind. Etwa jener Beitrag über die Twenmode anno 1966, als deren letzter Schrei Männer im Minirock galten. Oder die Hommage der wunderbaren Filmemacherin Lis Klatt an die Schwanthaler Hochebene, in der es heißt: „Wer in dieser Gegend wohnt, dem ist sie lieb wie ein abgewetzter Handschuh …“

In der Twenmode waren auch bei Männern Minirock angesagt, wie ein Beitrag von 1966 beweist. (Foto: BR)

Kurios ist auch ein Beitrag aus dem Jahr 1962, in dem Jakob Bauer, ein Kumpan des Räubers Kneißl, erzählt, zehn Mark hätten sie für ein gewildertes Reh bekommen. „Aber das hat euch ned gehört“, entgegnet der Reporter. „Macht ja nix“, antwortet Bauer.

Manche Filme zeigen berühmte Autoren in ihren Anfängen. Percy Adlon besuchte 1971 eine Bäuerin in Rudertshausen in der Hallertau. Adlon stellte der Mutter von fünf Kindern freche Fragen: „Ihr seid doch katholisch. Nehmts Ihr die Pille?“ Ganz rot und verlegen geworden, sagt sie nur: „Naaa!“ Das erschrockene Nein steht für eine Welt, wie sie heute nicht mehr existiert. Dass das Schlucken der Pille Sünde ist, wurde damals noch ebenso wenig angezweifelt wie die Rolle der Frau als Dienerin der Familie.

"Nehmts Ihr die Pille?“: Im niederbayerischen Dorf Rudertshausen stellt Reporter Percy Adlon 1971 einer Bäuerin freche Fragen. (Foto: BR)

Ein weiterer Film von 1978 zeigt einen schmächtigen Mann in einer Kammer. Es ist ein eindringliches Porträt eines der letzten Bauernknechte in Bayern. „Die Kameraführung und die Musik in diesem Film gehören zum Besten, was das Fernsehen je zustande gebracht hat“, sagt Habermeyer, der so viele Filme analysiert hat, dass sein Urteil Gewicht hat.

Die Reihe alpha-retro dokumentiert zuhauf dramatische Veränderungen. Aber es gibt auch poetische Filme, „in denen man vor lauter Wonne beim Zuschauen geradezu versinken kann“, wie es Habermeyer ausdrückt. Zum Beispiel über den Schulweg eines Mädchens in den 60er Jahren oder jener legendäre Streifen von Anka Kirchner über die Freuden und Nöte von Mädchen in Niederbayern im Jahr 1977. Wer die Genese des modernen Bayernlandes wirklich verstehen will, bekommt mit diesen Filmen das beste Lehrmaterial geliefert.

Am 31. Dezember geht Wolfgang Habermeyer in den Ruhestand. Ob seine Stelle noch einmal besetzt wird, ist ebenso offen wie die Zukunft des Senders ARD alpha. Sicher ist nur, dass es ARD alpha noch das ganze Jahr 2025 geben wird. Und damit auch die Reihe alpha-retro, die am Freitagabend von 21 Uhr an läuft (Wiederholungen am Samstagabend und am Montagnachmittag). In der ARD Mediathek sind jedoch nicht alle gesendeten Beiträge zu finden. „Das hat rechtliche Gründe“, sagt Habermeyer, dem es durchaus schwerfällt, seine Arbeit nun aufgeben zu müssen. „Es gäbe noch so viel Schönes und Wichtiges zu entdecken!“

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