Süddeutsche Zeitung

Familien in Bayern:Muttersein - Knochenjob und Bestimmung zugleich

Tina Veney und ihr Mann haben zu ihren drei leiblichen Kindern zwei Pflegesöhne aufgenommen. Wie der Alltag in der Großfamilie gelingt.

Von Anna Günther, Augsburg

Eine Reihenhaussiedlung wie viele in Augsburg. Kinder malen mit Kreide aufs Pflaster. Auf dem Klettergerüst neben dem Haus trocknen pinkfarbene Decken mit Blümchenmuster, ein kreisrunder Lehmfleck in der Wiese erinnert an Planschbecken und Sommerhitze. Dominik Veney, 31, spielt daneben mit seinen drei älteren Kindern Basketball, die beiden jüngsten machen Mittagsschlaf. Ferienidylle einer bayerischen Familie. Eine wie alle? Fast. Die Veneys fallen auf als Großfamilie. Auf dem nahen Abenteuerspielplatz ziehen sie später am Tag viele Blicke auf sich. Dominik Veney ist 1,99 Meter groß, sein Vater ist schwarzer Amerikaner, die Mutter Deutsche, und zwischen vier dunkelgelockten Kindern läuft ein blondes.

Tina und Dominik Veney sind eines von etwa 260 Elternpaaren, die für das Augsburger Jugendamt Pflegekinder großziehen. 400 Mädchen und Buben hat das Jugendamt an Familien im Großraum Augsburg und bis nach München vermittelt, dazu kommen etwa 100 Kinder in der Kurzzeitpflege, die auf Plätze in Familien warten. Weitere 450 Kinder leben in Heimen - auch weil es nicht genug Pflegefamilien gibt. Augsburg geht es wie vielen Kommunen in Bayern: Die Zahl der Kinder, die in Obhut genommen werden, steigt. Nicht aber die Zahl der Pflegefamilien. Zu groß scheinen Vorurteile und Ängste zu sein.

Leicht ist es auch für die Veneys nicht mit drei leiblichen und zwei Pflegekindern. "Wir wollten immer viele Kinder haben, anders sein, eine junge, moderne Familie", sagt Tina Veney, 37, die drei Brüder hat. Aber nach der Geburt des zweiten Kindes stand fest: nie wieder. Sie leidet an Hyperemesis gravidarum, einer extremen Form von Schwangerschaftsübelkeit. "Ich habe wochenlang auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen, als ich mit Elijah schwanger war, weil ich zu schwach war, um die Treppe hoch zu gehen", sagt sie.

Die Familienplanung nach Elijah, heute 9, und Maylin, 7, abzuschließen, kam nicht in Frage. Im Kindergarten lernten sie Pflegefamilien kennen, bei denen der Unterschied zwischen leiblichen und Pflegekindern nicht spürbar war. Tina Veney war begeistert, sprach mit ihrem Mann. Vor gut fünf Jahren war das, sie informierten sich beim Jugendamt, empfingen die Sozialpädagogen daheim, führten lange Gespräche und besuchten Vorbereitungsseminare. Das Verfahren ist strikt, nur wer emotional gefestigt und finanziell unabhängig ist, darf Kinder aufnehmen. Die Veneys waren entschlossen. Dann war sie wieder schwanger.

Der Wunsch, Pflegekinder aufzunehmen, blieb. "Wir haben nie gezögert und nie gezweifelt, auch nicht in der Schwangerschaft", sagt Veney. Iseah, 4, war ein sehr kleines Baby, er hatte Probleme mit der Lunge. Als er neun Monate alt war, meldeten sie sich trotzdem beim Jugendamt. Tochter Maylin hoffte auf ein Mädchen, endlich eine Schwester. Bald darauf kam ein vier Wochen alter blonder Bub in die Familie. An diesem Donnerstag ist das drei Jahre her. Tina Veney sitzt auf der Terrasse, streichelt dem Buben über das blonde Haar. Er ist sehr zart, müde nach dem Mittagsschlaf und schmiegt sich an die Mutter. Besuch verunsichert ihn, er nuckelt am Daumen, hat sein Schnuffeltuch "Anna" fest in der Hand. Er hängt sehr an der Mutter, mehr als die anderen. Wie sein jüngerer Pflegebruder reagiert er stark auf kleinste Veränderungen. Ihre Namen werden hier nicht genannt, um die Kinder zu schützen und deren leibliche Eltern. Die Vormundschaft der Buben haben Anwälte. Jede größere Entscheidung besprechen die Veneys mit ihnen und dem Jugendamt.

Die Jüngsten kämpfen täglich mit Erlebnissen aus Schwangerschaft und ersten Lebenswochen. Frühförderungs- und Arzttermine sind üblich, dazu ständige Absprachen und der Kontakt zu den leiblichen Eltern im Jugendamt, den die beiden Buben danach emotional erst wieder verarbeiten müssen. Pflege ist nicht Adoption. Tina und Dominik Veney sind Mama und Papa, aber die leiblichen Eltern sind auch mehr oder minder präsent. Es sei der ehrlichere Weg für die Pflegekinder und ihre Identitätsentwicklung, sagt eine Expertin. "Es ist unser Job, die Emotionen nach dem Umgang aufzufangen", sagt Tina Veney. Bis sich die Kleinen wieder fangen, vergeht stets Zeit. Ein Rest Unsicherheit bleibt immer, dass die Buben die Veneys verlassen müssen, wenn es den leiblichen Eltern besser geht. "Das ist uns bewusst", sagt Dominik Veney. "Aber wir denken nicht darüber nach", ergänzt seine Frau.

Muttersein nennt Veney einen "Knochenjob" - und ihre "Bestimmung". Das klingt pathetisch, aber ihre enorme Ruhe und Herzlichkeit fällt auf. Alle paar Minuten ruft ein Kind nach Mama, der Hund springt umher. Veney plaudert entspannt, macht Kaffee und schenkt dennoch jedem Kind Aufmerksamkeit. Eine Schüssel zerbricht, der blonde Bub weint, sie bleibt ruhig. "Das kann man nicht aus Büchern lernen, man muss aufs Herz hören", sagt Dominik Veney. Die Frage, wie sie es mit den fünfen schaffen, kennt er gut. Die Antwort: viel Nähe, Konsequenz und Regeln.

Die zuständige Sozialpädagogin preist am Telefon Tina Veneys Engagement und ihr Gespür für die Bedürfnisse der Kinder. An diesem Nachmittag kann sie mit dem blonden Buben kuscheln, während Dominik Veney mit den älteren dribbelt. Noch hat er Urlaub, von Montag an arbeitet er wieder als Entwickler bei einem Augsburger Konzern. Der Jüngste, 19 Monate, schaut zu, er kann den Ball gerade hochheben. "Aber wenn man ihm den wegnimmt, fängt er an zu weinen", sagt Maylin. Vielleicht wird er einmal Basketballer wie die Geschwister und der Vater.

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SZ vom 06.09.2019/vewo
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