Am Mittwoch war der Heizungsbauer da, nun kann Ulrich Fahrner endlich wieder warm duschen. Telefon und Internet laufen schon seit einer Woche wieder. Es sind die kleinen Dinge, die plötzlich eine große Bedeutung erhalten, wenn eine Katastrophe das Leben auf den Kopf stellt.
Für Ulrich Fahrner war das Hochwasser vor fast drei Wochen nicht nur privat ein Drama: Die Flut habe bei ihm zu Hause einen Schaden von etwa 100 000 Euro angerichtet, sagt er bei einem Gespräch am Donnerstag. Als zweiter Bürgermeister der 6800-Einwohner-Gemeinde Dinkelscherben ist Fahrner aber auch mit der politischen Dimension der Katastrophe befasst, die Schätzungen zufolge allein hier einen Schaden von bis zu 50 Millionen Euro verursacht hat. Noch immer seien einzelne Häuser unbewohnbar. „Am 1. Juni ab 17 Uhr ging es nur noch darum, Menschenleben zu retten“, sagt der Lokalpolitiker.
Nun steht die Frage im Raum, warum die Bürgerinnen und Bürger von Dinkelscherben nicht besser vor dem Hochwasser geschützt wurden – obwohl doch seit fast 25 Jahren klar ist, dass mehr Schutz nötig ist, wie Ulrich Fahrner sagt. 2000 und 2005 wurde der Ort im Landkreis Augsburg auch schon überschwemmt, damals habe man zügig Konzepte entwickelt, eigene Dämme und Becken gebaut, sagt Fahrner. Doch ein vor elf Jahren genehmigtes großes Rückhaltebecken an der Zusam, einem Gewässer, für das der Freistaat zuständig ist, existiert weiterhin nur auf Papier. Weil der Grundstückskauf zwischen den betroffenen Eigentümern und dem Wasserwirtschaftsamt einfach nicht vorankam. Wie kann das sein?
Das ist eine Frage, die sich so ähnlich vielerorts in Bayern stellt. In Dinkelscherben entwickelt sie aber gerade eine ganz eigene politische Brisanz. Am Donnerstagvormittag kündigte Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber (Freie Wähler) unter Verweis auf Dinkelscherben ein hartes Durchgreifen beim Hochwasserschutz an: „Wir müssen am Ende des Tages auch zum Instrument der Besitzeinweisung, sprich Enteignung, greifen“, sagte Glauber bei einer Sitzung des Umweltausschusses, „weil eben vor Ort die Grundstücke nicht für den Hochwasserschutz zur Verfügung gestellt werden.“ Man nehme den Schutz der Bevölkerung ernst und werde deshalb „alle Elemente anwenden“. Zuerst hatte der Bayerische Rundfunk über Glaubers Enteignungsvorstoß berichtet.
Es ist eine beachtliche Ankündigung, schließlich bekämpft die Regierung von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) Klima- und Umweltschutzpläne der Bundesregierung gern mit dem Argument, sie würden auf Zwang basieren. „Wir sind ein Frei- und kein Zwangsstaat“, betonte Söder immer wieder, um sich von der Ampelkoalition abzugrenzen. Noch vehementer hatte Glaubers Kabinetts- und Parteikollege Hubert Aiwanger Stimmung gegen umstrittene Hochwasserschutz-Projekte gemacht, etwa 2018 gegen die geplanten Flutpolder entlang der Donau: „Wir fordern den sofortigen Planungsstopp für die unsinnigen und sündhaft teuren Polder.“ Man müsse, so Aiwanger im Jahr 2015, „die Menschen in Bayern und ihr Eigentum mittlerweile vor der Staatsregierung schützen“.
Die Pläne des Umweltministers laufen diesen Erzählungen nun entgegen. In Deutschland sind Enteignungen zwar höchst umstritten, aber laut Artikel 14 des Grundgesetzes „zum Wohle der Allgemeinheit zulässig“. Vor allem beim Straßenbau werden Grundstückseigentümer in der Bundesrepublik regelmäßig enteignet, auch in Bayern gibt es jedes Jahr mehrere solcher Verfahren. Im Gegenzug zahlt der Staat eine Entschädigung an die Betroffenen oder gleicht die Fläche aus.
Es sei „das härteste Schwert“, sagte Thorsten Glauber zu dem Instrument. „Dass du dir damit keinen Freund machst vor Ort, ist auch klar.“ Da die öffentliche Sicherheit aber oberste Priorität habe, wolle er im Kabinett und dem Landtag diskutieren, ob derartige Verfahren auch schneller zum Einsatz kommen können.
Nordendorf in Schwaben:Alle raus hier
Der 2700-Einwohner-Ort Nordendorf wurde am Wochenende fast komplett evakuiert. Dann kam die Flut – und der Bürgermeister riegelte seine Gemeinde tagelang ab. Über ein Dorf, das nur langsam wieder zum Leben erwacht.
In Dinkelscherben waren schließlich viele Jahre vergangen, bis der Minister das Schwert letztlich zückte. Zu spät für das dramatische Hochwasser Anfang Juni – und auch nur unter großem Druck. Mehrere Bürgermeister sowie Augsburgs Landrat Martin Sailer (CSU) hatten den Stillstand nach der Flut öffentlich kritisiert. „In Dinkelscherben wären die Schäden meines Erachtens mit Sicherheit geringer ausgefallen, hätte es das dort seit Jahren gewünschte Rückhaltebecken bereits gegeben“, sagte Sailer. Auch Dinkelscherbens zweiter Bürgermeister Fahrner ist überzeugt, dass das Becken „die Hochwasserspitze gebrochen hätte“.
Nun soll das Projekt also durchgedrückt werden. Schon im kommenden Jahr soll laut Glauber der Bau im Ortsteil Siefenwang losgehen. 1,25 Millionen Kubikmeter Wasser wird das Becken im Ernstfall auf 136 Hektar zurückhalten, die Fläche entspricht etwa 170 Fußballfeldern. Vom Schutz soll nicht nur Dinkelscherben profitieren, sondern auch die Nachbargemeinden Altenmünster und Zusmarshausen.
„Ob das der richtige Weg ist – da würde ich ein Fragezeichen dran machen“
Dass der dringend benötigte Schutz nun durch Enteignungen ermöglicht werden muss, lässt Ulrich Fahrner etwas ratlos zurück. „Ob das der richtige Weg ist – da würde ich ein Fragezeichen dran machen.“ Etwa 60 Landwirte sind betroffen, die meisten dürften ihre Felder zwar behalten, müssten aber einer Flutung im Hochwasserfall zustimmen. Dafür würden sie eine einmalige Entschädigung von 20 Prozent des Grundstückswerts erhalten. Etwa acht Bauern müssten ihren Boden für das Rückhaltebecken samt Damm aufgeben. Speziell für Landwirte, die wirtschaftlich auf die Felder angewiesen seien, gehe es um die Existenz, sagt Fahrner. „Da gibt es kein Gut und kein Böse.“ Es gibt aber auch andere Stimmen, die behaupten, „dass hier einige Landwirte pokern“.
„Uns geht es nicht darum, den Preis hochzutreiben“, sagt Stefan Frey, einer der betroffenen Landwirte am Telefon zur SZ. „Es geht darum, dass wir am Ende nicht schlechter rausgehen.“ Es seien bereits Grundstücke verkauft, man wolle einen konstruktiven Beitrag leisten. Doch wer fünf Hektar Land an den Staat abtrete, müsse mit dem Geld woanders wieder fünf Hektar zurückkaufen können, das sei eine einfache Rechnung. Aber die Flächen seien rar und die Zusagen der Behörden bislang unzuverlässig. Deshalb haben Frey und Co. am Donnerstag eine Stellungnahme verschickt, in der sie Glauber und seine Behörden zu neuen Gesprächen aufrufen. „Lassen Sie uns dieses Projekt Hochwasserschutz Dinkelscherben gemeinsam, nunmehr zügig, zu einem gütlichen Abschluss bringen.“