Einsamkeit:Aus dem Schatten wieder ins Licht

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Julia K., 19, Diagnose Borderline, hat eine Selbsthilfegruppe gegen das Alleinsein gegründet - und sie hat gelernt, mit sich ins Reine zu kommen.

Von Lisa Schnell, Eggstätt

Julia K. hat ein Piercing in der Nase, ein knallbuntes Tuch in den Haaren und Löcher in der Jeans. In ihrer alten Karre sind die Autositze mit orangenen Batiktüchern bespannt, unter dem Radio klemmt eine CD von Linkin Park. K., die ihren echten Namen nicht veröffentlichen möchte, ist 19 Jahre alt, und wer sie so erzählen hört, über Punk und was für ein "Kuhkaff" ihr Eggstätt doch sei, der vergisst fast, warum man sie eigentlich trifft.

Vielleicht liebt K. das Bunte so, weil sie weiß, wie es ist, wenn die Welt sich verdunkelt. Wenn eine tiefe Traurigkeit einen übermannt, die Leere im Herzen sich ausbreitet und man nur noch eines spürt: dass etwas fehlt. Kurz: K. kennt die Einsamkeit. Aber - und darum soll es hier gehen - sie weiß auch, wie aus Schatten wieder Licht wird. Sie ist zwar erst 19 Jahre alt, ihr noch kurzes Leben aber bietet den Stoff für einen langen Roman. Es wäre keine leichte Lektüre, aber doch eine erhebende und gleichzeitig so etwas wie ein Lehrbuch gegen Einsamkeit. Das beste Mittel, das K. bis jetzt gefunden hat, ist übrigens das Lächeln eines anderen Menschen. Klingt kitschig, ist aber so. Aber dazu später.

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Bevor es ins Licht geht, muss K. einen noch kurz mit in den Schatten nehmen. Sie tut das im Jugendtreff von Eggstätt. Helle Holzmöbel, Brettspiele im Regal, ein Kicker. "Kuhkaff" erinnert einen K., während sie in der Küche Tee aufbrüht, orientalische Minze. Sie kennt die Einsamkeit des Teenagers, der sich von der Welt verlassen fühlt, die der armen Studentin, die in München zwar studiert, aber dort keinen kennenlernt, weil sie sich eine Wohnung in der Großstadt nicht leisten kann. Vor allem aber kennt K. die Einsamkeit, in die einen eine psychische Krankheit führen kann. Mit zwölf Jahren ritzte sie sich zum ersten Mal, mit 13 kamen die Essstörungen, mit 14 die Depressionen, mit 18 die Diagnose Borderline, eine Persönlichkeitsstörung. K. hat Gefühlsschwankungen, eine Minute oben, die andere unten und überstarke Empfindungen. Wenn Gefühle wie ein Lied sind, dann ist K.s Lautstärkeregler voll aufgedreht, und niemand kann ihn runterregeln. Ein Leben am Anschlag sozusagen.

Viele ihrer Freunde kamen damit nicht klar, die meisten ihrer Partner auch nicht. Sie kam ja selbst kaum klar. Freunde gingen, weil sie immer die Partybremse war, weil sie nicht wussten, was sie zu ihr sagen sollten, wie sie ihr helfen konnten. Beziehungen zerbrachen. Auch ihre Eltern fielen weg. K. erzählte ihnen nichts. Ihre Ritznarben verbarg sie im Winter unter langen Ärmeln, im Sommer unter Schweißbändern. Die Eltern hätten schon genug zu tun gehabt mit ihrer Schwester, sagt K. Auch sie hat eine Krankheit: Autismus. Also spielte K. das glückliche Kind. Sie zog sich zurück in ihre Welt und die Welt zog sich zurück von ihr. Es gab Momente, da hatte sie kaum noch jemanden außer sich selbst. Nicht genug.

K. erzählt all das sehr gefasst, nur an Kleinigkeiten sieht man, wenn ihr etwas besonders nahe geht. Sie wickelt dann den Faden des Teebeutels ganz schnell um ihren Zeigefinger. Zeit also für ein bisschen Licht. Es war der erste Tag im Oktober vor zwei Jahren, als ihr Leben sich aufhellte. Sie hatte auf Facebook einen Aufruf gestartet. Alle, die einsam waren und es nicht länger bleiben wollten, sollten sich melden. In nur drei Stunden hatte sie 30 Nachrichten, zu ihrem ersten Treffen kamen 15 Leute. Manchmal sind es die gewöhnlichsten Orte, an denen die außergewöhnlichsten Dinge passieren, in diesem Fall das Hinterzimmer des Italieners "Il Mondo" in Bad Endorf. Sicher, als es dann K. war, dieses kleine 17-jährige Mädel, das auf einmal über Einsamkeit sprach, schauten alle erst einmal recht verdutzt. Etwa so, als wollte ihnen der Weihnachtsmann was über Punk erzählen. Am Ende aber sind fast alle wiedergekommen.

"Du bist nicht allein", so nannte sie ihre Selbsthilfegruppe. Gerade hat sie für ihr Konzept einen Preis in Berlin erhalten. Es dürfen alle kommen. Die Jüngste ist 18, die Älteste 80 Jahre alt. Die einen haben eine psychische Krankheit wie K. , die anderen eine Scheidung hinter sich oder einen lieben Menschen verloren. Es gibt keinen Stuhlkreis. Kein "Hallo, ich bin Sandra und es geht mir schlecht, weil. . ." - das findet K. affig. Wie es einem gerade geht, erzählen sie sich am Anfang jedes Treffens in Dreiergruppen, die dann durchwechseln. Danach reden sie über ein Thema oder machen eine Übung. Das letzte Mal sollte jeder einen imaginären Koffer packen mit Eigenschaften, die er an sich gut findet. All das denkt sich K. aus. Sie organisiert Ausflüge, demnächst fahren sie Kühe streicheln, und sie sagt: "Das macht mich glücklich." Viel wichtiger aber ist, was es sie nicht macht: einsam.

"Geben Sie zuerst das, was Sie haben möchten." Diesen Satz sagt Eva Wlodarek gerne, wenn sie einsame Menschen um Rat fragen. Die Psychologin hat ein Buch über die Einsamkeit geschrieben und darüber, wie man sie hinter sich lässt. Die Nächstenliebe steht weit oben auf ihrer Liste. Menschen, die anderen helfen, ob in einem Hinterzimmer beim Italiener oder im Altenheim, kapierten ganz schnell ganz viel: Dass es anderen noch viel schlechter geht etwa, dass sie etwas bewirken können, aber vor allem, dass sie keine Opfer sind. Die Opferrolle mache einen passiv, sagt Wlodarek. Wer aber aus der Einsamkeit herauswolle, der müsse aktiv sein. Nicht auf die Einladung warten, sondern selbst einladen, offen sein, auch von der Körpersprache her, andere ansprechen, selbst wenn's schwer fällt. Und sich mal die Frage stellen: "Würde ich mich eigentlich selbst gerne treffen?" "Wir machen uns oft was vor, wie toll wir sind", sagt Wlodarek. Oft aber gebe es da einen blinden Fleck. Gar nicht attraktiv sei natürlich, wer zu verzweifelt wirke. Schämen aber müsse sich niemand, wenn die Einsamkeit kommt. "Einsamkeit gehört zum Leben", sagt Wlodarek. Jeder erlebe sie irgendwann. Nur, weil jemand einsam ist, heiße nicht, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Aber falls etwas nicht stimme, dann könne Einsamkeit ein Hinweis sein, den man nicht ignorieren sollte. Stattdessen: Sich nicht ständig ablenken, sondern der Einsamkeit auf den Grund gehen. Oft stelle sich heraus: Wer mit sich selbst im Reinen ist, ist auch weniger einsam. Dieses "Mit-sich-selbst-glücklich-sein" könne man sogar üben. Etwa mit einer Liste, auf der alle Dinge stehen, die man gerne tut. Überkommt einen die Einsamkeit, macht man eines davon.

Bei K. würde da etwa Spazierengehen stehen. Der See, die Sonne, die Berge. Sich einfach mal daran freuen, was man hat, und nicht so sehr daran denken, was man nicht hat. Das hilft ihr. Und schreiben. Sie hat einen Blog, auf dem sie über ihr Leben mit der Krankheit berichtet. Das ewige Verstecken, sie konnte es nicht mehr. Borderline sei eine Krankheit, klar, aber das sei ja auch sie, sagt K. Auch diese Erkenntnis habe gegen die Einsamkeit geholfen. Sie fällt wohl in die Kategorie Mit-sich-selbst-ins-Reine-Kommen. Das mit der Selbstkritik hat K. auch ausprobiert. Anstatt sich zu ärgern, dass ihre Freunde sich nicht mehr bei ihr melden, fragte sie irgendwann, was sie selbst ändern könnte. Seitdem hat sie keine Freunde mehr verloren.

Der Minztee ist ausgetrunken, der Teebeutel pappt am Tassenboden. K. schaut kurz zum Fenster raus, zur Kälte, in die sie gleich wieder muss. Einsam sei sie natürlich trotzdem manchmal noch, sagt sie. Gerade jetzt in der "Kuscheljahreszeit", in der sie keinen zum Kuscheln hat. Händchenhaltend über den Weihnachtsmarkt gehen so wie ihre Freunde, das wünsche sie sich. Aber vielleicht ist diese Art von Einsamkeit für eine 19-Jährige ja ganz normal? Ihr Mittel dagegen ist es zumindest: Traurige Musik hören, ganz laut und alles rausheulen. Die "beste Heul-Musik" ist natürlich - Linkin Park.

Anmerkung der Redaktion: Der Name der Protagonistin wurde nachträglich anonymisiert, liegt uns aber vor.

© SZ vom 28.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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