Bayern:Eine Frau für 1018 Schicksale

Bayern: Zur Asylsozialberaterin Sigrun Grüninger kommen an einem Nachmittag bis zu 50 Klienten, wie dieser Asylbewerber aus Eritrea.

Zur Asylsozialberaterin Sigrun Grüninger kommen an einem Nachmittag bis zu 50 Klienten, wie dieser Asylbewerber aus Eritrea.

(Foto: Dietrich Mittler)

Bis zu 50 Asylbewerber kommen jeden Tag zu Sigrun Grüninger und suchen ihren Rat. Dabei sollte sich die Asylsozialberaterin aus Neu-Ulm eigentlich um viel weniger Menschen kümmern.

Von Dietrich Mittler, Neu-Ulm

Das Poltern der Schritte, das gequälte Knarzen der Holztreppe, die aufgebrachten Stimmen - diesen Augenblick kann Sigrun Grüninger einfach nicht vergessen. Kurzes Klopfen an der Tür, sie sagte noch "Herein", und dann standen sie vor ihr: mehr als zehn bullige Asylbewerber aus Pakistan, verzweifelt und wütend zugleich, weil sie endlich einen Arbeitgeber gefunden hatten, dann aber doch von Amts wegen nicht arbeiten durften. Überdies hatte ihnen auch noch die Neu-Ulmer Polizei das Cricketspielen auf dem Bolzplatz verboten.

"Solche Schränke waren das", beschreibt Grüninger die Männer, und dabei holt die schmale Asylsozialberaterin der Diakonie weit mit den Armen aus. Alle hatten die Ablehnung ihres Antrags auf Beschäftigungserlaubnis in der Hand. "Die waren supersauer", sagt die 53-Jährige. Und alle warteten nun darauf, dass sie das Problem löst.

Bei der verweigerten Arbeitserlaubnis konnte sie nichts machen, denn für die Jobs hatten sich auch deutsche Bewerber gemeldet, die bevorzugt angestellt werden müssen. Aber Cricket spielen - ja warum denn nicht? Hierbei ist wichtig zu wissen, dass Grüninger gut einen Meter sechzig geballte Energie ist, mal mütterlich streng, mal schelmisch lachend, aber stets aktiv und schnell mit der Hand am Telefon, um die richtigen Stellen einzubinden.

Am Ende fanden sich durch den Zeitungsartikel eines Journalisten, den sie ins Boot geholt hatte, genügend Spender für eine komplette Cricket-Ausrüstung. Und als Dreingabe auch ein Platz zum Trainieren. "Die sind jetzt quasi in der Liga und haben eine eigene Facebook-Seite", sagt sie. Im vergangenen Jahr sei das ihr größter Erfolg gewesen. "Eine tolle integrative Leistung, und das nach einer sehr aufgeheizten Anfangssituation", sagt Grüningers Chefin Sigrun Rose. "Die jungen Leute waren ganz einfach unterfordert. Und weil sie nicht arbeiten durften, noch einmal frustrierter."

Die Schlange der Wartenden reicht weit die Treppe hinunter

Bevor Sigrun Grüninger ganz oben im dritten Stock des Neu-Ulmer Diakoniegebäudes ihr Büro aufschließt, gönnt sie sich noch eine Tasse Kaffee. Mal wieder weiß sie nicht, was da so alles auf sie zukommt. "Letzte Woche waren 100 Leute da, wobei eine Gruppe insgesamt 30 Asylbewerber umfasste, die gern in einem Tafel-Laden gebrauchte Kleider gekauft hätten, dazu aber erst einen entsprechenden Ausweis brauchten", sagt sie. "Meist aber kommen an einem Nachmittag zwischen zehn und 50 Klienten", sagt sie. Als sie schließlich nach oben geht, reicht die Warteschlange der auf Rat oder Beistand hoffenden Asylbewerber weit die Treppe hinunter. Besser ließe sich nicht dokumentieren, was die Asylberatungsstelle in Neu-Ulm - so wie auch viele andere Beratungsstellen in Bayern - angesichts sprunghaft gestiegener Flüchtlingszahlen zu leisten hat.

Ende Februar waren nach Angaben des Sozialministeriums bereits 116 277 Flüchtlinge seit Jahresbeginn neu in Bayern eingetroffen. Von denen, die hier dann auch ihren Asylantrag stellen, stammen die meisten aus Syrien, gefolgt von den Ländern Irak, Afghanistan, Ukraine. Nach aktuellem Stand sind derzeit gut 153 000 Asylsuchende im Freistaat untergebracht - zunächst in Erstaufnahme-Einrichtungen, dann in den sogenannten Gemeinschaftsunterkünften, in Privatwohnungen, in ehemaligen Gasthäusern oder anderen angemieteten Anwesen.

Sozialministerin Emilia Müller (CSU) legt Wert darauf, dass der Freistaat die Asylsozialberatung als freiwillige Leistung in diesem Jahr mit 30 Millionen Euro aus Haushaltsmitteln fördere. "Somit wurden von 2011 bis heute die Mittel für die Asylsozialberatung um das Zwanzigfache erhöht", heißt es aus ihrem Ministerium. Bayerns Wohlfahrtsverbände und die Kirchen schießen aus ihrem Etat weiteres Geld zu, um die Beratung der Asylbewerber zu gewährleisten. "Mit jährlich mehr als zwei Millionen Euro an kirchlichen und diakonischen Eigenmitteln haben wir die Zahl der Beraterinnen und Berater seit 2011 von damals 18 Stellen auf derzeit etwa 106 Vollzeitstellen aufgestockt", sagt Michael Bammessel, der Präsident des Diakonischen Werks in Bayern. Das entspricht aktuell rund 150 Mitarbeitern.

Sigrun Grüninger ist für 1018 Asylbewerber zuständig, Richtlinie wäre 1 zu 150

Bammessel rechnet vor, der Freistaat fördere "faktisch weniger als 70 Prozent der realen Personalkosten". Sodann kommt er auf die Herausforderungen für die Mitarbeiter in den Beratungsstellen zu sprechen: "Die Förderrichtlinie des Freistaats sieht - je nach Einrichtungsart - ein Verhältnis von einem Berater auf 100 beziehungsweise 150 Flüchtlinge vor. De facto aber haben wir in Bayern eine Durchschnittsquote von eins zu 400, mancherorts sogar ein Verhältnis von eins zu 700."

Sigrun Grüninger indes käme es gelegen, wenn sie eine solche Quote hätte. "Ich bin rein rechnerisch für 1018 Asylbewerber zuständig, die in den mir zugewiesenen Unterkünften in Neu-Ulm leben", sagt sie. Bayernweit ist das unerreicht der Spitzenwert unter den Diakonie-Einrichtungen. "Aber zum Glück kommen die ja nicht alle hierher", fügt Grüninger hinzu. Sieben Köpfe umfasst derzeit das Team der Asyl- und Migrationsberatung der Diakonie Neu-Ulm, zuständig für die Kreise Neu-Ulm, Günzburg und Dillingen. Grüningers Kolleginnen, beziehungsweise der Kollege, sind nicht minder ausgelastet, sodass Geschäftsführerin Sigrun Rose auch darauf achten muss, dass keiner ihrer Mitarbeiter unter die Räder kommt: "Ich muss schauen, dass die nicht Oberkante, Unterlippe unterwegs sind, sondern auch mal Überstunden abbauen können."

Vielfach ist es gar nicht die immense Routinearbeit, die Sigrun Grüninger belastet. Die besteht zumeist im Ausfüllen von Formularen und Anträgen. "Die Leute denken immer, dass wir Sozialpädagogen reden, Konflikte schlichten und so. Dass wir aber wahnsinnig viel Papierkram haben, da sagt keiner was davon", schimpft Grüniger in sich hinein. Dabei grinst sie demonstrativ fröhlich, denn ihr sitzen gerade zwei junge Syrerinnen gegenüber, die ihre Hilfe bei der Wohnungssuche brauchen.

Belastendes müssen die Beraterinnen wegschieben und für alle Flüchtlinge da sein

"Es gibt schlimme Sachen, die nicht an uns abperlen", sagt Grüninger dann. Da war etwa der junge Mann, der im Baggersee ertrank. "Der hatte gerade angefangen, hier Fuß zu fassen", erinnert sie sich. Und dann war da die Mutter mit drei Kindern, die an einem bösartigen Hirntumor verstarb. Und die Asylbewerber, die sich aus Angst vor der drohenden Abschiebung aus dem Fenster gestürzt hatten oder die vor ein Auto sprangen. "Das belastet uns, weil wir diese Menschen gekannt haben, und dann kommen meist auch noch die geschockten Mitbewohner zu uns und wollen getröstet werden", sagt Grüninger.

Aber an solchen Tagen heißt es, sich zusammenzureißen. Es stehen ja noch die vielen anderen vor der Tür, die endlich mit Hilfe der Berater in einen Deutschkurs kommen wollen, die auf Arbeit, beziehungsweise eine Berufsausbildung hoffen oder auch ganz profan nach Internetanschluss fragen und wissen wollen, welcher Fußballverein Flüchtlinge aufnimmt. Und immer wieder Familienväter, die Frauen und Kinder nachholen möchten sowie diejenigen, die seit Monaten darauf warten, einen Asylantrag stellen zu können.

Auch der 26-jährige Syrer Mulham Shafaomri hat Sorgen: Er könne doch nicht für seinen kleinen Bruder Salah Vater und Mutter ersetzen - ob Grüninger da nicht beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorsprechen könne, um den Eltern die Einreise zu ermöglichen. Ihm, wie so vielen anderen an diesem Tag, bescheinigt sie dann, er müsse sich wohl leider gedulden. Kurz darauf hört sie bereits einem anderen jungen Syrer zu, der sagt: "Ich habe schon vier Jahre meines Lebens verloren. Mir ist egal, welche Arbeit ich hier bekomme. Hauptsache, ich kann davon leben."

Aber dann ist da ja noch dieser Hüne aus Nigeria, der bei ihr strahlend einen seiner wenigen deutschen Sätze anbringt: "Hallo, wie geht es dir?" Und wenig später der Junge aus Afghanistan, der nach der Beratung zu ihr ins Zimmer zurückkommt und sagt: "Entschuldigung, das ist doch Ihr Kuli." Grüniger lächelt: "Irgendwo kommt doch alles zurück", sagt sie. Und das ist durchaus mehrdeutig gemeint.

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