Die Weihnachtsgeschenkproduktion ist am Gymnasium Landschulheim Marquartstein in den Wochen vor den Ferien auf Hochtouren gelaufen. Diesmal - nun darf man es verraten, die Geschenke sind längst ausgepackt - fanden Eltern, Großeltern und Freunde einen Flaschenöffner unterm Baum, getarnt als hölzerner Hobel in Miniaturformat. Selbst gebaut von den Schreinerlehrlingen des Gymnasiums, in der schuleigenen Werkstatt, die direkt am Ufer des Tiroler Achen liegt. "Ich finde den Hobel echt bärig", sagt Seppi Grießenböck, 14, beim Besuch in der Werkstatt. Weihnachten 2021 lag eine Schale in Sternform mit Intarsien unterm Baum. Großen Spaß mache ihm das Arbeiten mit Holz, sagt Grießenböck. So großen, dass er schon in der neunten Klasse ernsthaft über ein Holztechnik-Studium nachdenke.
Die Schüler in der Schreinerei nehmen ihre Sache sehr ernst: Die Arbeitsplätze an den Werkbänken sind penibel ordentlich, Buben und Mädchen arbeiten an diesem Nachmittag hochkonzentriert. Zeit für Ratsch ist schon, dann herrscht wieder geschäftige Ruhe. Es duftet nach Holz und Maschinenöl. Den Umgang mit den Maschinen nimmt Schreinermeister Miche Huber genau und geht dazwischen, wenn ein Handgriff nicht sitzt. Seppi Grießenböck ist mit seiner Schulaufgabe schon fertig und sucht umherstromernd nach neuen Aufgaben. Am Ende ihrer Lehre müssen die Schüler alle Arten der Holzverbindung kennen, diesmal war ein Hocker mit sogenannter Schwalbenschwanzverbindung dran. Puzzleteilen ähnlich ist das Holz zusammengesteckt, die Form der Verbindung erinnert an einen Schwalbenschwanz. Huber gab die Pläne aus, acht Stunden hatte Grießenböck dafür Zeit.
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Grießenböck ist einer von insgesamt 15 Schreinerlehrlingen, die parallel zum regulären Schulunterricht in Marquartstein auf ihrem Weg zum Abitur auch noch die Lehre machen. Dieses Pilotprojekt ist einzigartig in Bayern, etwas ähnliches gibt es bundesweit noch als "Duales Gymnasium" an zwei Handvoll Schulen in Baden-Württemberg. Vorreiter war dort die katholische Mädchenschule Kloster Wald bei Sigmaringen, an der Schülerinnen seit den Fünfzigerjahren auch noch Maßschneiderin werden können. Mittlerweile sind zudem Schreinerei und Holzbildhauerei im Angebot. Weitere Gymnasien im Ländle kamen durch die Initiative eines Unternehmers zur Ausbildung.
Im Chiemgau gehen derzeit sieben Mädchen und acht Buben bei Meister Huber in die Lehre. In der achten Klasse beginnt die auf fünf Jahre angelegte Ausbildung, pro Jahrgangsstufe kann Huber nur drei Schüler annehmen. Die Nachfrage ist weitaus größer, das Bewerbungsverfahren mit Bewerbungsschreiben und Probearbeit anspruchsvoll. Zugelassen werden nur Schüler mit guten Noten und Organisationstalent, denen die Lehrer diese anhaltende Zusatzbelastung zutrauen. Die Schule hat Vorrang. Wer das Abitur nicht besteht, bekommt auch keinen Gesellenbrief.
Zwei Nachmittage pro Woche arbeiten die Jugendlichen in der Schreinerei, dazu kommen zwei Stunden Theorie und im Verlauf der Lehre drei Maschinenkurse sowie ein Oberflächenkurs. Die Schüler lernen zudem Maschinen konventionell und mit dem Computer zu bedienen sowie PC-gestütztes Erstellen von Fertigungszeichnungen. Am Ende legen die Gymnasiasten gemeinsam mit allen Schreinerlehrlingen in der Traunsteiner Innung ihre Gesellenprüfung ab. Extrawürste gibt es nicht. Das ist Huber sehr wichtig.
Seit 18 Jahren läuft das Projekt am Marquartsteiner Gymnasium, gewachsen aus der Tradition der Schule, die 1928 vom Reformpädagogen Hermann Harless gegründet wurde. Während die gymnasialen Nachwuchsschreiner in der Region laut Meister Huber längst etabliert sind, wurden sie in München offenbar vergessen: Die Fachabteilungen mögen noch Bescheid wissen, bei ersten Anfragen aber herrscht im Kultusministerium wie in der Handwerkskammer Ratlosigkeit. Dabei lebt das staatliche Gymnasium in Marquartstein seit Jahren vor, wozu die Staatsregierung im vergangenen Sommer alle weiterführenden Schulen Bayerns verpflichtete: Mit dem neu eingeführten "Tag des Handwerks" sollen alle Schüler - auch am Gymnasium - fortan mit handwerklichen Berufen in Berührung kommen. Gelungene Lobbyarbeit der Kammern? Ein Versuch der Politik, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken?
Eines jedenfalls will Schulleiter Christian Czempinski nicht: missionieren. Die Schreinerlehre laufe an seinem Gymnasium gut, sagt er, sie passe zum Ansatz ganzheitlicher Bildung und tue den Schülern und Schülerinnen als Ausgleich gut. "Das ist eines der Highlights, das sie immer nennen." Damit eine Blaupause für alle anderen Gymnasien zu sein oder Mittelschulen Konkurrenz zu machen, lehnt Czempinski ab. Vielmehr müssten sich Politik und Gesellschaft die Frage stellen, was genau die Aufgabe von Gymnasien sein soll. Und diese dann klar definieren, damit die Schulen in Frieden ihre Arbeit machen können. Ohne ständig mit neuen Ideen konfrontiert zu werden. "Aber das passt in diese Zeit, Schule muss alles richten."
Die Arbeit in Schreinerei, Töpferei, Gärtnerei und Elektrowerkstatt ist am Gymnasium fester Bestandteil des Fünftklass-Stundenplans und Wahlfach für die höheren Klassen. Durch die Initiative des früheren Schulleiters Hans Schwab entstand 2004 mit Meister Huber und der Handwerkskammer das zeitlich gedehnte Marquartsteiner Konzept zur eigentlich dreijährigen Schreinerlehre. Leicht sei das anfangs nicht gewesen, erzählt Huber. In den Handwerksbetrieben der Umgebung habe sich so mancher gedacht, "jetzt kommen die Gscheiden vom Gymnasium". Mittlerweile seien seine Lehrlinge aber gern gesehene Praktikanten, fünf Wochen im Jahr müssen sie sich außerhalb der Schule beweisen.
Der Umgangston in der Werkstatt ist sehr locker, Schüler und Schreinermeister sind per Du, Frotzeleien fliegen durch die Luft. Huber läuft durch die Halle, kommentiert dort, hilft hier, ermahnt auch mal. Plötzlich stockt er, dreht sich um und brummt: "Gnadenlos wird es ausgenutzt, wenn der Chef einmal nicht hinschaut." Der Kampf ums Radio sei ein Endlosthema, sagt er und seufzt. Statt Heimatmusik erklingen Achtziger-Hits aus seinem Radio. Miranda Maier schmunzelt an ihrer Werkbank nebenan und ölt betont fokussiert ihren Schwalbenhocker. Diese Runde im Spiel "Wer bestimmt die Musik" entscheidet die Schülerin für sich. Und Huber lässt sie schmunzelnd gewähren.
"Jetzt kommen die Gscheiden vom Gymnasium"? Falsch!
Maier, 15, klingt sehr begeistert, wenn sie über ihre Ausbildung spricht. Es sei toll, selbst Dinge aus Holz zu bauen. Balkonkästen für Blumen zum Beispiel - "die sind aus Lärche, damit das Holz länger hält" - eine Tischuhr oder ein Tablett mit Intarsien. Auch wegen der Schreinerei wollte sie nach der Grundschule unbedingt dieses Gymnasium besuchen, sagt die Neuntklässlerin. Ihr Bewerbungsschreiben aus der siebten Klasse hängt sogar an der Werkstattwand: Statt auf Papier zu schreiben, brannte Maier ihre Worte mit einem Brennkolben in eine große Baumscheibe. Also will sie bestimmt Schreinerin werden? Maier winkt ab. "Nein, ich liebe Biologie, ich möchte Meeresbiologin werden. Die Schreinerei soll Spaß und Hobby bleiben." Eine eigene Werkstatt daheim, das wünsche sie sich.
Schreiner werden die wenigsten Abiturienten, sagt auch Meister Huber. Es scheint ihm nicht allzu viel auszumachen. Seine Gesellen nennt er "mein ganzer Stolz". 31 bildete er bisher aus. Einige Schüler studieren fachorientiert weiter, etwa an der nahen Technischen Hochschule in Rosenheim, die eine Fakultät für Holztechnik und Bau hat. Auch alle anderen profitieren, findet Huber. "Wir vermitteln, wie sie strukturiert arbeiten und richtig planen." Und nebenbei stellen die Schüler und Schülerinnen Möbel fürs Gymnasium her: Nachtkästchen fürs dazugehörige Internat etwa oder Bücherregale für die Fünft- und Sechstklässler, damit sie ihre Bücher nicht ständig tragen müssen. "Es kann auch gut sein", sagt Huber und klingt dabei ziemlich zufrieden, "dass ein Schüler Abitur an einem Tisch schreibt, den er selber gebaut hat."
Hinweis der Redaktion: Uns hat ein Leserhinweis erreicht, der ergänzt, dass es so ein integriertes duales Ausbildungskonzept, das Lehre und Abitur umfassen kann, nicht nur in Marquartstein sowie mit einigen Beispielen in Baden-Württemberg gibt, sondern auch an der Hibernia-Schule im nordrhein-westfälischen Herne. Die Hibernia-Schule ist staatlich anerkannt und befindet sich in freier Trägerschaft, unterrichtet wird dort nach dem Konzept der Waldorfpädagogik.