Günter Strobl klingt gefasst, als er am Montagmittag im Holzheimer Ortsteil Eppisburg das Telefon abhebt. Ja, die Shalomah, die sei jetzt wohl bei ihren Eltern, sagt der Pflegevater der Elfjährigen. Bei denen, die aus seiner Sicht in ihrer "eigenen Welt" leben. Genau genommen in einer Art urchristlichen Landkommune, die mit ihren Kindern so brutal umgegangen ist, dass Shalomah im Alter von drei Jahren zu Strobl und seiner Frau kam.
Doch seit Samstag ist sie weg, nach dem Joggen verschwunden. Am Montag mehrten sich die Hinweise, dass das Mädchen mit den langen braunen Haaren nicht etwa Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, sondern zurück bei den leiblichen Eltern ist. Das legen zwei E-Mails von ihnen und den "Zwölf Stämmen" nahe. Die Polizei prüfte am Montag noch die Authentizität der Mitteilungen.
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Der Fall des verschwundenen Kindes ist ein neues Kapitel in der langen, verworrenen Geschichte einer weltweit aktiven, urchristlichen Gruppierung, die in Bayern wegen ihrer Erziehungsmethoden immer wieder Schlagzeilen gemacht hat. Denn während sich die "Zwölf Stämme" auf ihrer Website als eine Art urchristliche Heile-Welt-Gemeinschaft präsentieren, soll es hinter der Fassade brutal zugegangen sein.
Die Aufnahmen eines RTL-Reporters, der sich 2013 zu der Gruppe in das ehemalige Kloster Gut Klosterzimmern (Landkreis Donau-Ries) eingeschleust hatte, zeigten, wie Eltern Kinder mit Ruten auf den nackten Po schlugen. Die Bilder lösten deutschlandweit Entsetzen aus und einen Polizeieinsatz, wie ihn das schwäbische Deiningen noch nicht gesehen hatte. An einem Septembermorgen holten etwa 100 Beamte gut 40 Kinder und Jugendliche aus dem Hof der Sekte und verteilte sie auf verschiedene Heime und Pflegefamilien - darunter war auch Shalomah.
Damals betrieb die Gruppe, sie sich auf die Zwölf Stämme Israels beruft, sogar ihre eigene Schule. Doch mit dem Zugriff nahmen die Behörden auch die Genehmigung dafür zurück. Vor Gericht verteidigten die Mitglieder der Gruppe ihren pädagogischen Ansatz, wonach im Spiel der Teufel stecke und die Bibel körperliche Züchtigungen vorgebe. Mehrere Eltern wurden zu Bewährungsstrafen verurteilt, eine Lehrerin zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren.
Shalomah kam zur Familie Strobl nach Holzheim, ihre Eltern flohen wie viele andere aus der Gruppe ins benachbarte Tschechien. Dort errichteten die Mitglieder der Gruppe zwei neue Dependancen. Weil das Schulgesetz dort nicht so streng ist, können die "Zwölf Stämme" ihre Kinder privat beschulen. Auch Prügelstrafen sind in gewissem Umfang gesetzlich erlaubt. Auf eine E-Mail-Anfrage, ob Shalomah tatsächlich bei Ihnen sei, reagierte die Gruppe am Montag nicht. Ein Mitglied sagte der Bild-Zeitung am Montag, dass die Eltern des Mädchens bereits seit einem Jahr nicht mehr bei den "Zwölf Stämmen" lebten.
Was feststeht: Der Kontakt zwischen Shalomah und ihren leiblichen Eltern war über die acht Jahre, die sie bei den Pflegeeltern lebte, nie abgerissen. Unter Aufsicht der Behörden konnten sie sich regelmäßig sehen, das bestätigt auch ihr Pflegevater. Die Sehnsucht nach den leiblichen Eltern sei zuletzt sehr groß gewesen, erzählte Günter Strobl am Montag der Augsburger Allgemeinen. Ob Shalomah tatsächlich bei den leiblichen Eltern war, ob sie sich am Samstag auf eigene Faust aufmachte oder ob ihre Eltern sie holten, war am Montag noch offen.
Nun zeichnet sich eine emotional und juristisch komplizierte Gemengelage ab. Nach Paragraf 235 Strafgesetzbuch steht auf den Entzug Minderjähriger eine bis zu fünfjährige Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe. Allerdings müssten die tschechischen Behörden dafür mit den hiesigen kooperieren, sollte die Familie in Tschechien sein. Dann, so ein Sprecher des Justizministeriums, müsste man sich über eine Auslieferung Gedanken machen.
Für etwaige Ermittlungen sei es aber noch "viel zu früh", sagte der Augsburger Oberstaatsanwalt Andreas Dobler am Montag. Er gehe davon aus, dass man Ermittlungen aufnehmen werde. In einem Fall, der schwierig zu bewerten sein wird. Denn, das gab selbst die Polizei am Montag zu: Wenn alles so ist, wie es scheint, sagte ein Polizeisprecher am Montag, "dann geht es Shalomah gut".