Süddeutsche Zeitung

Corona-Vorbild aus Baden-Württemberg:Alle wollen Tübingen sein

Nach der Ankündigung von Ministerpräsident Söder, acht bayerische Modellregionen für Lockerungen auszuwählen, melden zahlreiche Stadtoberhäupter Interesse an. Doch die Kriterien für den Versuch stehen noch gar nicht fest.

Von Florian Fuchs, Matthias Köpf, Dietrich Mittler, Olaf Przybilla und Lisa Schnell

Viele Stadtoberhäupter in Bayern hatten ihre Kommunen schon vor der Ankündigung von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) als Modellregion empfohlen. Damit sich überhaupt was tut. Am Mittwoch dann kündigte Söder an, vom 12. April an in acht Städten nach dem Vorbild von Tübingen das öffentliche Leben hochzufahren. Da er gar von einem Modell "Tübingen plus" sprach, wird die Staatsregierung nun mit Bewerbungsschreiben überschwemmt. "Gefühlt sind es schon tausend", sagte Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) am Donnerstag.

Kemptens Oberbürgermeister Thomas Kiechle (CSU) wandte sich direkt an den Ministerpräsidenten. Söder aber äußerte sich am Donnerstag nicht weiter dazu, nach welchen Kriterien "Tübingen plus" nun funktionieren soll. "Ist Sache des Gesundheitsministeriums", hieß es aus der Staatskanzlei. Dort werde konkret ausgearbeitet, was der Ministerpräsident vor den Kameras angekündigt hat - eine Botschaft, aus der sich heraushören lässt: Bayern kann es besser, Bayern bietet sogar noch ein "Plus". Wobei das Plus auch so zu verstehen sein kann, dass im Freistaat das öffentliche Leben in den Modellstädten selbst bei höheren Inzidenzwerten wieder hochgefahren werden soll. Tübingen nämlich weist nach eigenen Angaben "eine stabile Sieben-Tage-Inzidenz von unter 50 auf".

Der Tübinger OB Boris Palmer (Grüne) hatte bundesweit Beachtung erfahren, als er ein "Tagesticket" als Zugangsvoraussetzung zu den Geschäften sowie zu den kulturellen und gastronomischen Einrichtungen einführte - sprich den Nachweis eines tagesaktuellen negativen Corona-Schnelltests. Söders Ziel lautet bislang so: strenge Schutzmaßnahmen und ein Höchstinzidenzwert zwischen 100 und 150. Womöglich könne, wie Holetschek andeutet, der Wert auch mal bei 155 liegen.

Ziel sei es, bis kommende Woche die Parameter zu definieren und jene Städte vorzuschlagen, die am Projekt teilnehmen dürfen. Zwei sollen in Oberbayern liegen, sowie jeweils eine in den restlichen Regierungsbezirken. Großstädte, so Holetschek, sehe der Ministerpräsident nicht als geeignet an. Indes: Die eine oder andere Stadt könne industriell geprägt oder Standort einer Hochschule sein. Auch komme "eine kreisangehörige Gemeinde" in Betracht. Dort gemachte Erfahrungen sollen wissenschaftlich ausgewertet werden - durch das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit und möglicherweise zudem durch eine Universität oder Hochschule. Ziel sei, auszuwerten, ob sich "Tübingen plus" auch auf Regionen ausweiten lasse.

"Was die Vorschläge angeht, sind die Oberbürgermeister und Bürgermeister sehr kreativ", sagte Holetschek. Einer dieser Kreativen ist der Mühldorfer Landrat Max Heimerl (CSU). Er hat der Staatsregierung seinen Landkreis im östlichen Oberbayern noch am Mittwoch und ohne lange Abstimmung als mögliche Modellregion ans Herz gelegt. Die Sieben-Tage-Inzidenz im Kreis pendle seit Ende Februar um den bisher entscheidenden Wert 100. Angesichts dieser vergleichsweise stabilen Ausgangslage lasse sich am Mühldorfer Beispiel "ein möglicherweise vorhandener kausaler Zusammenhang" zwischen einzelnen Öffnungsschritten und der weiteren Entwicklung der Inzidenz besonders gut nachweisen, argumentiert Heimerl.

Dass die Inzidenz zuletzt so stabil war, erklärt der Landrat auch mit der "ausgereiften Teststrategie", über die man dank der Mitwirkung von verschiedenen Hilfsorganisationen und elf Apotheken bereits verfüge. Für die 115 000 Landkreisbürger wären nach Heimerls Kalkulation rund 100 000 Tests pro Woche oder rund 15 000 pro Tag nötig. Auf eine Ausweitung auf diese Größenordnung sei man gut vorbereitet. Für den Fall, dass sein Bewerbungsschreiben nicht berücksichtigt werde, empfiehlt Heimerl der Staatsregierung noch die Kreisstadt Mühldorf, die sich schon etliche Tage vor Söders Erklärung separat um einen Modellversuch bemüht hatte.

Auch aus Ostbayern und Ingolstadt regnet es Bewerbungen. Als einer der ersten hob der Ingolstädter Oberbürgermeister Christian Scharpf (SPD) den Finger. Scharpf treibt seit Wochen in seiner Stadt eine umfassende Teststrategie voran. Nun aber musste er von Söder hören, Ingolstadt sei zu groß. "Erst mal das Konzept anschauen und nicht vorschnell Aussagen treffen", fordert Scharpf.

Auch Regensburg und Passau haben eine Bewerbung eingereicht. Gertrud Maltz-Schwarzfischer (SPD), Oberbürgermeisterin von Regensburg, wirbt mit Test- und Schutzkonzepten, der Gurgeltest-Studie an Regensburger Schulen sowie einer wissenschaftlichen Begleitung durch das Universitätsklinikum. Mit einer Uniklinik kann Passau nicht aufwarten. Oberbürgermeister Jürgen Dupper (SPD) meint, andere Trümpfe in der Hand zu haben. Er kündigte an, die flächendeckenden Teststationen mit einer "softwareunterstützten Nachvollziehbarkeit" zu kombinieren. Zudem sei Passau ja Grenzstadt. Die dort gewonnenen Erkenntnisse seien sicher auch hilfreich für andere Städte, die an einer Staatsgrenze liegen.

Würzburg hat in dieser Pandemie eine Achterbahnfahrt hinter sich. Man war bundesweit beachteter Hotspot zu Beginn, zahlreiche Todesfälle vor allem in Heimen waren zu beklagen, nun aber liegt der Inzidenzwert stabil unter 100. Als Modellregion fühlt man sich prädestiniert - als Oberzentrum in einer ländlichen Umgebung mit ausreichend Abstand zu den Metropolen Frankfurt, Nürnberg, Stuttgart, wie OB Christian Schuchardt (CDU) ausführt. Das Problem: Würzburgs Inzidenzwerte sind zu gut. SPD-Fraktionschef Alexander Kolbow will aber nicht den OB kritisieren. "Aus politischen Gründen" sei diese Bewerbung richtig, die Kriterien seien vom Ministerium falsch gesetzt. Kolbow befürchtet, dass sich nun die "Würzburger verschaukelt fühlen" angesichts der Tatsache, dass man sich offenbar zu korrekt verhalten habe, um Modellregion werden zu können.

Kemptens Oberbürgermeister Thomas Kiechle weiß den Handelsverband Bayern hinter sich. Das können nicht viele Städte vorweisen. Kempten zähle zu den Top Ten im bundesweiten Ranking des Umsatzpotenzials je Einwohner, schreibt Kiechle. Einzelhandel, Wirtschaft und Tourismus - alles stark vertreten. Mit 71 000 Einwohnern sei Kempten dennoch räumlich gut abgrenzbar und biete somit die Möglichkeit, strenge Schutzmaßnahmen und Testkonzepte zu etablieren. Augsburgs Oberbürgermeisterin Eva Weber (CSU) weiß indes um Söders Bedenken gegen Großstädte - zu wenig greifbar, zu wenig räumlich abgrenzbar. Dann doch lieber Nördlingen? Die räumliche Abgrenzung ist dort kein Problem: Nördlingen wirbt im Rennen um "Tübingen plus" mit seiner Stadtmauer.

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SZ vom 26.03.2021/kafe
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