Süddeutsche Zeitung

Nachtleben in Corona-Zeiten:So sinnvoll wie ein alkoholfreier Vodka Soda

Feiern mit Hygienekonzept? Oder zu Hause mit der Partnerin tanzen, wie Markus Söder es vorschlägt? So einfach ist das nicht. Seit Beginn der Corona-Krise sind Clubs und Diskotheken geschlossen. Ein Lagebericht.

Von Lisa Schnell und Felix Schwarz

Vor der Bar, in einer Ritze, liegen die letzten Überreste: glitzernde Konfetti, gold und rot, ein Kronkorken und ein Ring. Vielleicht beim Tanzen abgefallen, vielleicht ein nächtliches Drama nach dem fünften Stamperl. Matthias Passow bückt sich, nimmt den Ring zwischen die Finger und legt ihn auf den Tresen. Aufheben, für alle Fälle, sie werden ja hoffentlich wieder öffnen - irgendwann.

Es ist traurig: kein Gin Tonic an der Bar, keine Gäste, die noch einen nehmen. Rosa und blaue Lichtkegel wandern über eine leere Tanzfläche. Sie werfen ihre Arme nicht mehr zu House-Beats in die Luft, sie knutschen nicht mehr in den Nischen an der Tanzfläche und Champagnerduschen gibt es auch nicht mehr. Seit dem 17. März 2020 ist der Liesl-Club in Deggendorf geschlossen. Wer wissen will, was das heißt, muss Matthias Passow zusehen, 31 Jahre, schwarzer Kapuzenpulli.

Er wuchtet eine 15-Liter-Flasche Veuve Clicuot auf die Schultern. Der eine Arm hält den riesigen Flaschenbauch, der andere ein imaginäres Glas vor dem Flaschenhals. Champagnergläser, triff da mal rein! Das war was. Oder als er um vier Uhr im Putzlicht einen Gast entdeckte, schnarchend bei der Shotbar. Wer dem Betreiber der Liesl zuhört, der ahnt: Da fehlt mehr als nur Geld.

Ein Jahr, zwei Monate, 26 Tage. So lange sind die knapp 800 Clubs und Bars in Bayern schon zu. Keiner musste länger schließen, keiner wurde so vergessen. Die Biergärten sind voll, die Restaurants, es gibt Konzerte für 1600 Fans - und Clubs? "Das dauert" hatte Markus Söder im Juni 2020 gesagt und es dauert und dauert und dauert.

Und dann sagte Söder einen Satz, bei dem man sofort Hausverbot bekommt, wenn man ihn in einem Club wiederholt: "Sie können ja zum Beispiel zu Hause mit ihrer Partnerin tanzen." Walzer, oder was? Nein, besonders gut verstanden fühlen sich Leute wie Matthias Passow nicht.

Mit 18 Jahren fing er als Türsteher im Liesl an. Damals hieß es noch "Freudenhaus" und seine Mutter bekam einen halben Herzinfarkt, als er es unter anderem mit seinem Bruder 2017 übernahm: ein Bordell? Sie suchten dann schnell einen anderen Namen. Passows Bruder ist Koch und Hotelfachmann, er Heizungsbauer. Er hämmert alles Mögliche zusammen und macht die Bar, sein Bruder Musik und Licht. Sie haben noch zwei Restaurants, Tapas, Steak, Burger, eine Bar und eine Hochzeitslocation. Mehr Gastro geht kaum. Und alles war auf einmal zu, die Liesl am längsten.

"Ein harter Schlag", sagt Passow. Die Rücklagen ihrer Firma waren binnen Wochen weg, private habe er kaum. Im August durften sie wieder Privatfeiern machen mit 100 Leuten, nur, kaum lief es an, war der nächste Lockdown da. Und 100 Leute, was ist das schon? "Methadon", sagt Passow, nur eine Ersatzdroge: "Es sieht echt aus, aber man spürt, das stimmt so nicht." Sonst haben sie bis zu 300 Leute. Er steht jetzt am Rand der Tanzfläche, streckt seinen rechten Arm aus und marschiert vorwärts. So bahnt er sich normalerweise den Weg durch die Menge.

Aber er will nicht jammern. Mit den Hilfen vom Staat könnten sie die Fixkosten decken. Nur: Von was lebt er dann? Das sagt Passow nicht so genau. Auch nicht, wie hoch die Kredite sind, die sie aufgenommen haben. Nur so viel: Zehn Jahre werden sie mindestens abbezahlen. Sie haben noch einen Club dazu gepachtet, da bauen sie gerade um, einen viel größeren. Obwohl praktisch keine Einnahmen reinkommen. Wer eine Zukunft haben wolle, der müsse investieren, sagt Passow. Je länger man ihm zuhört an der Bar in seinem Club, desto weniger kann man sich vorstellen, dass Matthias Passow jemals woanders steht, als hinter dieser Bar.

Er vermisst den positiven Stress, als er mit patschnassem Rücken Eissäcke durch die Stadt trug, weil sie keines mehr hatten, er vermisst das entspannte Mitfeiern ab drei Uhr und den "Double-Steakhouse" bei Burger King danach, wo sie ihre Gäste wiedergetroffen haben. Überhaupt die Leute, sagt Passow, die gehen ihm echt ab. Aber sie schaffen das schon, sagt er. Da glaubt er fest dran.

"Ich habe kein Ende mehr gesehen", sagt Bader

Daniel Bader, 35, konnte das nicht mehr. Er betrieb die Liesl mit den Passow-Brüdern. Im April 2020 ließ er sich noch für die Zeitung in der leeren Liesl ablichten, trotzig, mit verschränkten Armen. Jetzt arbeitet er nicht mehr in Deggendorf, sondern ruft von einer Wolfratshauser Nummer an. Er geht nicht mehr um sechs Uhr in der Früh ins Bett, er ist nicht mehr der "coole Clubbetreiber", er ist jetzt Verkaufsleiter in einem Möbelhaus. Kein schlechter Job, sagt er, nur seine Wohnung, seine Freunde sind alle noch in Deggendorf. Unter der Woche lebt er im Hotel. Nicht ideal, sagt Bader, aber: "Ich hab keine Wahl."

Fünfzehn Jahre war er im Nachtleben, zwölf davon selbständig. Er hatte Clubs, eine Bar, er buchte DJs, konnte sich aussuchen, wann er aufsteht, Montag hatte er frei, die Leute kannten ihn. "War schon cool", sagt er. Dass er mal was anders macht? Unvorstellbar. Und dann kam Corona. Er brauchte seine Ersparnisse auf, 60 000 Euro, einfach weg. "Ich habe kein Ende mehr gesehen." Kredite aufnehmen, ohne zu wissen, wann es weitergeht, das war ihm zu riskant: "Ein Fass ohne Boden." Vielleicht, wenn es eine Perspektive gegeben hätte, aber die gibt es ja nicht.

Knapp 37 000 Menschen arbeiten in Bayern in der "getränkegeprägten Gastronomie", also Bars, Clubs, Discos. "Ich kenne Betreiber, die auf Hartz IV angewiesen sind", sagt Knuth Walsleben, nicht die Mehrheit, aber: "Irgendwann geht den meisten das Geld aus." Walsleben ist Vorsitzender des Bundesverbands deutscher Diskotheken und er könnte das schon, eine Perspektive geben.

"Ich bin der Meinung, dass wir wieder öffnen sollten, wenn jeder in Deutschland ein Impfangebot erhalten hat", sagt er. Könnte also noch dauern. Dass Hygienekonzepte in Clubs ungefähr so sinnvoll sind wie ein alkoholfreier Vodka Soda, weiß eh jeder. Knutschen mit Maske, wie soll das gehen? Entweder ganz oder gar nicht, sagt Walsleben, alles andere sei nicht rentabel. Ein anderer Vorschlag ist, nur für die drei Gs zu öffnen: Geimpfte, Getestete, Genesene.

In London etwa feierten schon Anfang Mai 4000 Personen die Brit Awards, eine Disco in Liverpool empfing bei einem Modellprojekt 6000 Menschen, nur mit Tests, die Inzidenz lag etwa bei 20 wie gerade in Bayern. Das bayerische Gesundheitsministerium aber ist weniger risikofreudig. Clubbetreibern könne keine Perspektive gegeben werden, teilt es mit. Geöffnet werde inzidenzabhängig. Wie war das? Tanzen Sie doch mit ihrer Frau.

Johanna Annetzberger, 22, hat keine Frau, sie hat einen Freund und den hat sie wo kennengelernt? Im Lobo. Eine Großraumdisco auf dem Land, neben einem Sägewerk, vom Parkplatz sieht man den Kirchturm. Waldkirchen, Hinterschmiding und Jandelsbrunn, so heißen die Orte hier und wer wissen will, was das Lobo für die Jugend dort bedeutet, muss in Waldkirchen nur mal zu Rewe gehen. Dort verkaufen sie "Lobo-Sauce". Eine Schnitzelsemmel vom Lobo-Imbissstand für 3,10 Euro mit dieser gelben Sauce um halb drei in der Nacht - "geil", sagt Annetzberger.

Sie geht ins Lobo seit sie 16 ist, jedes Wochenende mit ihrer Clique, 15 Leute. Viele Orte, um sich zu treffen gibt's bei ihnen nicht, wer jemand kennen lernen will, muss ins Lobo, sagt sie. Nur geht das halt seit über einem Jahr nicht mehr und das "fehlt brutal". Bierbong in der Küche, Spieleabend, machen sie alles, daheim tanzen à la Söder? Geht nur im Lobo, sagt Annetzberger.

Da aber stehen jetzt Kloschüsseln vor der Bar und auf dem Boden Automaten, aus denen sich die Frauen "sexy Dessous" ziehen können und die Männer Kondome. Die hängen sonst im Klo, aber das renovieren sie gerade, sagt Simon Stockinger, was soll man sonst auch tun? Sieben Bars, 2500 Gäste, Sido war schon da und Mia Julia im USA-Glitzer-Bikini. Über den hochgestellten Barhockern sieht Stockinger die Partyfotos von früher auf Monitoren: "Traurig."

Er ist selbst in der CSU, Söder findet er eigentlich gut, aber zu Hause tanzen? Wenn es um Kultur geht, meint die Politik immer nur Hochkultur, Oper und Theater, sagt er. Clubs aber "sind auch eine Kultur". Nur habe die Jugend eben keine Lobby und sie auch nicht. Finanziell würden sie es packen. Er und seine zwei Mitbesitzer haben nebenher noch reguläre Jobs. Das Lobo wird es weiter geben.

Und die Liesl? Daniel Bader sagt da nichts dazu, er wünscht seinen früheren Geschäftspartnern alles Gute. Generell ist er skeptisch. "Corona ist ein brutaler Knacks", sagt er. Schon vorher sei es schwer gewesen, die Leute von der Couch zu kriegen und zum Feiern. "Sie haben sich dran gewöhnt, zu Hause zu bleiben." Seine Prognose: weniger Gäste, weniger Clubs. Und er? Für immer Möbelverkäufer? "Natürlich wäre es schön, wieder einen Laden zu haben", sagt Bader. Wenn aber, dann nur nebenbei: "Alles andere ist zu unsicher."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5318782
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 12.06.2021/infu, van
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.