Carl Amery:Der bayerische Weltgeist

Carl Amery: Der Schriftsteller Carl Amery im Jahr 1979.

Der Schriftsteller Carl Amery im Jahr 1979.

(Foto: Rita Strothjohann)

Linkskatholik und Urbayer, Rebell und Konservativer, Träumer und Realist: Zu seinem 100. Geburtstag werden Erinnerungen an Carl Amery wach - einen der originellsten Literaten, die das moderne Bayern hervorgebracht hat.

Von Hans Kratzer

Am Nachmittag des 30. August 2002 machten sich drei SZ-Redakteure auf den Weg zum Hofbräuhaus, wo sie mit dem Schriftsteller Carl Amery und dem CSU-Politiker Peter Gauweiler verabredet waren. Nach einer launigen Plauderei zog die Gruppe weiter auf die Dachterrasse eines nahegelegenen Hotels. Damals stand eine Bundestagswahl bevor, und es war immer deutlicher zu spüren, dass tatsächlich ein bayerischer Kandidat (Edmund Stoiber) Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden könnte.

Es lag also nahe, an jenem Freitag über bayerische Befindlichkeiten zu diskutieren, und nicht zuletzt über den Mythos, der das alte Bayernland umrankt. Als sich nach einiger Zeit die Sonne am Horizont feuerrot senkte, staksten am Pool der Dachterrasse plötzlich Dutzende langbeinige Mannequins herum. Wohl selten kamen sich der Glitzer der mondänen Modewelt sowie die schlichte bayerische Weltweisheit näher als in jener Stunde des Sonnenuntergangs hoch über den Dächern der Münchner City.

Freilich, in das Weltbild des Carl Amery passte diese Koexistenz von unvereinbar wirkenden Phänomenen durchaus. Seine Romane und Denkwelten strotzten ja geradezu vor Diskrepanzen, die er jedoch virtuos zusammenzwängte. So ließ er etwa die Bayern, die als krachende Verlierer aus dem Deutschen Krieg von 1866 heimgekehrt waren, in dem Roman "An den Feuern der Leyermark" einfach gegen die Preußen siegen, um dann gedankenreich darzustellen, wie sich der Weltenlauf in diesem Fall in Form eines irgendwie freiheitlichen bajuwarischen Prinzips fortgesetzt hätte.

Die Leidenschaft des Mahners, der seiner Zeit gedanklich weit voraus war

Amery breitete während der Diskussion am Hotelpool streitlustig die Essenz seines Denkens aus. Wie eh und je brodelte in ihm die Leidenschaft des Mahners, der seiner Zeit gedanklich weit voraus war. Tatsächlich hatte er Katastrophen wie jene im Atomkraftwerk Tschernobyl schon vorhergesehen, als andere noch verständnislos den Kopf schüttelten. "Jetzt übertreibt er aber", habe er sich irgendwann in den 70er Jahren gedacht, erzählte später einmal der Münchner Alt-OB Christian Ude, nachdem Amery in einem Beitrag in der SZ gewarnt hatte, angesichts der "Rücksichtslosigkeit der Atomindustrie" stehe "die Bewohnbarkeit der Erde" auf dem Spiel.

Wenn es um den Erhalt der Schöpfung ging, war Amery rigoros. Immer wieder trug er an führende Politiker heran, sie sollten "die riesigen Flotten des Individualverkehrs durch hinreichende Angebote von öffentlichen Verkehrsmitteln reduzieren". In den frühen 80er Jahren hatte er als Gründungsmitglied der Grünen gebelfert, man opfere ohne Wimpernzucken die von Gott gegebene Schöpfung einem skandalösen Profit. Viel Gehör fand er nicht. "Wir galten als glatte Spinner und sonst gar nichts", sagte Amery bei der Diskussion am Pool.

Die CSU hatte ihn lange Zeit ignoriert, für sie war er so etwas wie ein Antichrist und ein bayerischer Nestbeschmutzer. Doch Amery ließ sich nicht beeindrucken. Im Gespräch betonte er (wie auch Gauweiler), er taxiere sich selbst als konservativ. Andere nannten ihn einen konservativen Rebellen und einen Linkskatholiken. Kaum einer ging schon in den 60er Jahren so streng mit der Kirche ins Gericht wie er. Trotzdem blieb er Katholik, auch wenn ihn die Amtskirche gerne losgeworden wäre.

Die vielen Würdigungen, die dem 2005 gestorbenen Amery in diesen Wochen zum 100. Geburtstag nochmals zuteil werden, machen deutlich, welch eine Ausnahmefigur er war. Auch wenn er es niemandem leicht gemacht hat. Nicht einmal den Grünen, die mit ihm ebenfalls nicht viel anfangen konnten, für sie blieb er ein in der Wolle gefärbter Bayer, der auch ohne Wampe und Stiergnack befremdlich barock daherkam. Als die Grünen 2005 ihr 25-jähriges Bestehen feierten, triezte Amery sie mit der Mahnung, sie sollten ihre politische Ausrichtung grundsätzlich überdenken.

Er litt an seiner Heimat, gerade weil er sie so liebte. Das macht Amerys Blick auf Bayern bis heute wertvoll. Der Journalist Rüdiger Dilloo erinnerte einmal an die Schriftstellerin Ruth Rehmann, die 1966 nach einer ironisch gefärbten SZ-Reportage über ein Veteranenfest im Chiemgau mit Haberfeldtreiben, Notzüchtigung und Ertränken bedroht worden war. In ihrer Bedrängnis bat sie Carl Amery um Rat: "Was soll ich machen, zur Polizei gehen?" "Des bringt nix", sagte Amery zu ihr. "Entweder du schreibst a Gschicht im Spiegel und wanderst ausm Chiemgau aus. Oder du hoitst dei Mei!"

Seine Schulzeit in den Bischofsstädten Passau und Freising, seine Jahre im Krieg und in der Gefangenschaft, sein Literaturstudium in den USA, dazu die Mitgliedschaft in der Gruppe 47, seine Präsidentschaft beim PEN-Club, sein zurückgezogenes Leben in Hirschbichl im Landkreis Ebersberg, das alles formte ihn zu einem der originellsten Literaten der Nachkriegszeit und quasi zu einem lebenden Widerspruch: Linkskatholik und Urbayer, Rebell und Konservativer, Träumer und Realist.

Die Codes seines Denkens sind nicht immer leicht zu entschlüsseln

Die Codes seines Denkens sind nicht immer leicht zu entschlüsseln, am allerwenigsten in seinen Romanen. Der Literaturwissenschaftler Reinhard Wittmann sagt, man müsse sich beim Lesen von Amerys Texten durchaus anstrengen. Wer aber die bayerische Geschichte bis zurück ins 18. Jahrhundert gut kenne, dazu literarische Perlen wie etwa die Bücher des Satirikers Anton von Bucher (1746-1817), für den sei Amerys überbordende Sprache ein Genuss. "Er war ein unglaublich freier und unabhängiger Geist", sagt Wittmann.

Ein Solitär, den nichts so sehr umtrieb wie die Frage, wie die Erde unter der Last von Überbevölkerung, Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung überleben könne. Aus dieser Bedrohung heraus entwickelte Amery die zeitlos gültige Paradoxie: "Der Mensch ist nur dann die Krone der Schöpfung, wenn er weiß, dass er sie nicht ist."

Es war schon dunkel geworden, als Amery am Ende des Gesprächs am Hotelpool seinen Herzenswunsch benannte: ein Europa der Regionen. "Denn wir werden uns auf etwas zubewegen, das viel schlimmer ist, als alles, was wir bisher kannten." Der Menschheit, so deutete er in seiner gewohnten Kryptik an, blieben bald nur noch die Optionen auf Leben und Tod.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusPassionsspiele in Oberammergau
:Und das Kunstblut tropft vom Kreuz

Nach zwölf Jahren wird die mächtige Passion wieder in Oberammergau aufgeführt. Schauspielerinnen und Schauspieler sind geimpft, der Regisseur erholt sich von einem Herzinfarkt. Was kann noch schiefgehen? Über einen Ort, der entschlossen ist, genug gelitten zu haben.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: