Süddeutsche Zeitung

Allerheiligen und Allerseelen:Dem Franken sein Zopf, dem Schwaben seine Brezn

In Bayern hat fast jede Region ihr spezielles Gebäck zu Allerheiligen und Allerseelen. Einst gab man die Backwaren den Armen. Woher die Tradition kommt und was aus ihr wurde.

Von Hans Kratzer, Kelheim

"Schweren Herzens", so teilte die Stadt Kelheim in der vergangenen Woche mit, habe sie wegen der Corona-Krise den Spitzlmarkt abgesagt. Das Bedauern ist gut nachzuvollziehen, denn der stets gut besuchte Markt ist seit Menschengedenken eine Institution. Es ist ein liebenswerter Brauch, der unmittelbar mit den Festtagen Allerheiligen und Allerseelen (1. und 2. November) zusammenhängt. Der Name Spitzlmarkt rührt von den Spitzln her, einem Backwerk, das nur an Allerheiligen verkauft wird. Die Bäckereien in Kelheim pflegen die Tradition des Spitzl-Backens mit großem Eifer, auch wenn sie diese Ware heuer wegen des abgesagten Marktes nur in den Läden verkaufen konnten.

Fast jede Region in Bayern hat ihr spezielles Allerseelengebäck, in Kelheim und Umgebung ist es unter anderem das Spitzl, in Schwaben gibt es Seelenbrezn (-brezgä), in Franken Seelenzöpfe, und rund um München werden Seelenwecken feilgeboten. Der Backbrauch blickt auf eine lange Geschichte zurück, in der er sich zudem grundlegend geändert hat. Einst legten manche Bauern das Gebäck am Allerseelentag auf die Fensterbank, es war als Gabe für die armen Seelen gedacht. In der unergründlichen Vorstellungswelt unserer Vorfahren gingen die Gläubigen davon aus, die Seelen der Verstorbenen kehrten am Allerseelentag oder in der darauffolgenden Seelwoche körperlich dorthin zurück, wo sie einst zu Hause waren. Damit sie sich auf ihrer Reise stärken konnten, reichte man ihnen in handfester Manier Seelenzöpfe und Seelenwecken.

Da diese freilich am Fenster liegen blieben, schenkte man sie dem bettelnden Volk, das damals an Allerseelen von Haus zu Haus zog. Mit dieser guten Tat, so der Volksglaube, erlöse man zumindest die arme Seele eines verstorbenen Verwandten aus dem Fegefeuer, in dem die Toten ihrer Erlösung harren. Im Bayerischen Wald umschrieb man die Bettelei um das Allerseelen-Gebäck mit dem Wort "Spitzlgeh". Der Volkskundler Reinhard Haller führt das darauf zurück, dass die Bauern häufig lediglich die harten Spitzl vom Brot hergaben. Die Beschenkten bedankten sich trotzdem, und zwar mit den Worten "Vergelt's Gott, für die armen Seelen".

Wie das Brauchtum an Ostern und Weihnachten ist auch jenes, das sich um Allerheiligen und Allerseelen rankt, von einer pulsierenden Dynamik geprägt. Dies zeigt nicht zuletzt das kürbisumrankte Phänomen Halloween, das innerhalb weniger Jahre den Festkreis Allerheiligen fast in den Hintergrund gedrängt hat. Vielen ist zwar der Festtag Allerheiligen noch ein Begriff, aber nicht mehr der Allerseelentag am 2. November. Dabei war Allerseelen einst der eigentliche Totengedenktag, bis der Gräberbesuch auf den Feiertag Allerheiligen verlegt wurde. Überdies sprang der Brauch des Beschenkens der Armen mit zunehmendem Wohlstand auf die Paten über, die nun an Allerheiligen Seelenwecken oder Spitzl an das Patenkind überreichten. Dass auch dieser Brauch schon lange gepflegt wird, belegt eine Schrift des Aufklärers Andreas Zaupser, wonach die Paten bereits anno 1789 dem Patenkind einen Seelenwecken darreichten.

In der Bäckerei Schlegl in Neuburg an der Donau werden ganz traditionell zwei Arten von Allerseelenspitzl gebacken. Die herzhafte Variante ist geflochten und besteht aus Semmelteig mit Kümmel. Das süße Spitzl entsteht aus einem Butterhefeteig mit Rosinen. Es ist ein Fünf-Kranz-Zopf, dessen Anfertigung eine Hirnaufgabe ist und viel Übung erfordert, wie Bäckerin Silvia Schlegl bestätigt. Sie sagt aber auch: "Dass das immer noch ein Patengeschenk ist, das hör ich jetzt nicht mehr."

In mancher Familie ist das aber durchaus noch der Fall, wie die Bäckerei Sproß in Velden bestätigt. In Neuburg können die Paten aus einer riesigen Vielfalt wählen: Lebkuchenspitzl, Herrentortenspitzl, Donauwellenspitzl, Vanillecremespitzl, insgesamt gibt es wohl 30 Varianten an Tortenspitzln. Das Bayerische Fernsehen filmte 2017 den Kelheimer Landrat Martin Neumeyer, wie er beim Spitzlmarkt Punschspitzl erwarb. "De san guat", sagte er, wobei er lachend anfügte: "Und san ohne Kalorien!" Seine ironische Anmerkung relativierte die Chefin der Konditorei: "Spitzl sind gut für die Seele, aber zum Abnehmen natürlich nicht."

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SZ vom 02.11.2020/flud
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