Süddeutsche Zeitung

Blattmacher:Wenn nicht jetzt, wann dann?

Eigentlich war der "Blickkontakt" so gut wie fertig, als der Krieg in der Ukraine losbrach. Für die Redaktion war trotzdem klar: Das Thema muss mit in die Ausgabe - allein, um ein Zeichen zu setzen.

Von Annika Nopper und Marie Oberhoff

"Wie ist das für euch, dass jetzt wieder Krieg in Europa ist?" Diese ziemlich gute Frage stellte uns ein BR-Reporter in der ersten Schulstunde nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine. Auf dem Weg in die Schule hatten wir es gerade erst im Radio erfahren - und jetzt wurden wir als junge Menschen, die so etwas ja noch nie erlebt hatten, gefragt, was wir davon hielten. Mit Kameras im Rücken und einer Europakarte an der Tafel erklärt zu bekommen, wo vor ein paar Stunden das russische Militär in die Ukraine eingefallen ist und was die vermeintlichen Gründe dafür sind, das war für uns auf eine ganz andere, unbekannte Weise bedrohlich. Uns wurde klar, irgendetwas musste zerbrochen sein in der vergangenen Nacht. Etwas, das man nicht so einfach mit Sekundenkleber reparieren kann.

Dieser 24. Februar 2022 war ein Donnerstag. Am Mittwoch darauf war wieder Redaktionssitzung bei uns in der Blickkontakt-Redaktion. Eigentlich befanden wir uns mit der aktuellen Ausgabe im Endspurt, in einer Woche wollten wir in den Druck gehen. Das hieß auch, das Titelthema "Menschlichkeit" stand schon lange fest, die Artikel waren bereits geschrieben und das Layout arbeitete auf Hochtouren an der finalen Druckversion. Und jetzt auf einmal diese Jahrhundertkatastrophe, die nach Platz auf unseren Seiten schrie. Was tun?

Also diskutierten wir. Wie sollten wir einen brutalen Angriffskrieg kinder- und jugendgerecht in einer Zeitung über Menschlichkeit aufarbeiten? Das Thema hatten wir uns ja in der Hoffnung ausgesucht - nach Ausgaben zu Tod, Angst und Machtlosigkeit sowie einer Pandemiezeit, die endlich positiven Input forderte - unsere Welt mal etwas optimistischer beleuchten zu können. Und doch war die Stimmung im Redaktionsraum im dritten Stock des Von-Müller-Gymnasiums in Regensburg klar: Wir mussten etwas zum Krieg schreiben. Einerseits, weil sich jeder wundern würde, ob wir beim Druck eine Seite vergessen hätten, würden wir so ein einschneidendes Unrecht einfach ignorieren. Andererseits, weil vor allem unsere Leser - Kinder und Jugendliche - es oft sehr schwer haben, sich ein neutrales Bild über gesellschaftliche Probleme zu machen.

Wie sollten wir das anstellen? Eine Zusammenfassung der Ereignisse, die Gründe erklären oder doch ein Interview mit Betroffenen? Was wollen Jugendliche wissen und was sollten sie hören? Recht schnell einigten wir uns: Wir brauchten einen Faktencheck, um unsere Mitschüler über die wichtigsten Eckdaten zu informieren, auch mit dem Hintergedanken, dass sie vielleicht zuhause nichts vom Krieg mitbekamen. Um zu zeigen, welche Hilfsmöglichkeiten sogar wir junge Menschen haben, planten wir einen Bericht über die Spenden-Sammelaktion unserer Schule. Denn uns allen stand die Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben. Und zu guter Letzt wollten wir ein Zeichen setzen, uns ganz klar positionieren und unseren Worten, die nach Menschlichkeit verlangten, auch Taten folgen lassen. Pro verkaufter Ausgabe spendeten wir einen Euro an die Ukraine-Hilfe der Regensburger Organisation Space-Eye.

Solch ein Thema in wenigen Tage zu bewältigen war kein Kinderspiel und erforderte Kapazitäten, die kurz vor Redaktionsschluss einfach nicht mehr vorhanden waren, vor allem nicht bei den Abiturienten. Umso erfreulicher, dass sich in den allerletzten Tagen vor Drucklegung noch zwei Redakteurinnen voller Tatendrang und quasi über Nacht aufmachten, zwei Artikel zu verfassen, ohne die wir uns die Zeitung jetzt gar nicht mehr vorstellen könnten.

Als wir dann noch versuchten, beim Aktualisieren des Vorwortes den schwierigen Weg zu dieser Zeitung nachzuzeichnen, fiel uns auf, dass einige Beiträge aufgrund der neuen Umstände umso relevanter geworden waren. Es war beängstigend, wie nahtlos sich der Putin-Bezug in den Leitartikel, ein Plädoyer für Menschlichkeit, einfügen ließ. Auch das Interview mit einem Mitschüler über seine traumatische Flucht aus dem Irak war aktueller und notwendiger denn je. Und die Geschichte eines politischen Gefangenen, der vor zig Jahren in der Türkei gefoltert worden war, warf Parallelen zu inhaftierten Kriegsgegnern in Russland auf, die einfach nur traurig machten. So waren wir am Ende nicht trotz, sondern wegen des Ukraine-Krieges froh, unsere Zeitung unter das Thema Menschlichkeit gestellt zu haben.

Probleme, die nie von der Bildfläche verschwunden waren, aber doch die wenigsten von uns persönlich betrafen, sind mit einem Ruck noch echter und noch näher geworden - und wir ein kleines Stückchen desillusionierter. Wenn man sich in dieser Situation nicht auf die Suche nach der Menschlichkeit begibt, wann dann?

Annika Nopper und Marie Oberhoff sind beziehungsweise waren Chefredakteurinnen des Blickkontakts am Von-Müller-Gymnasium in Regensburg.

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