Sprachgeschichte:Der bayerische Grimm

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Ein Denkmal in seinem Geburtsort Tirschenreuth erinnert an Johann Andreas Schmeller, den herausragenden bayerischen Sprach- und Mundartforscher, der von 1785 bis 1852 lebte. (Foto: Hans Kratzer)

Eine neue Biografie über den Gelehrten Johann Andreas Schmeller ermöglicht tiefe Einblicke in das Leben eines Genies im unruhigen 19. Jahrhundert. Einer großen Lebensleistung steht eine Ära gegenüber, in der selbst überragende Taten keinen Schutz vor sozialer Benachteiligung boten.

Von Hans Kratzer

Als herausragender Wissenschaftler hat Johann Andreas Schmeller (1785-1852) zu Recht einen Ehrenplatz im bayerischen Olymp erklommen. In seiner Kindheit war dieser Aufstieg keineswegs vorhersehbar. „Unter Bauernkindern, der ärmsten eines, ward ich groß und tauglich das Vieh zu hüten“, vermerkte er später in seinem Tagebuch. Der Vater fristete ein kärgliches Dasein als Kürbenzäuner (Korbflechter), und doch prägte den Sohn die Existenz auf dem kümmerlichen Anwesen im besten Sinne. Unter allen Gewerben sei ihm dieses unscheinbare seines Vaters das ehrwürdigste, schrieb Schmeller rückblickend. Dass er trotz vieler Widrigkeiten als Wissenschaftler reüssierte, getrieben von einem fast übermenschlichen Fleiß, und dabei stets Empathie und Bescheidenheit ausstrahlte, ist die Folge einer Kindheit, die ihm Entbehrung abverlangte, aber auch eine Heimat schenkte.

Es hat schon seinen guten Grund, dass der Sprachwissenschaftler Jacob Grimm nach Schmellers Tod im Jahr 1852 an die Bayerische Akademie der Wissenschaften schrieb: „Darin sind wir einig, dass Baiern keinen bessern deutschen Mann aufzuweisen hatte, als diesen edlen, liebenswürdigen, bescheidenen Schmeller.“ Grimm hob in seiner Würdigung nicht zuletzt das Bayerische Wörterbuch hervor, ein Jahrhundertwerk, das Schmeller in schwierigen Zeiten ganz allein verfasst hatte. „Es wird für immer als ein unerreichbares Muster dastehen, wie sich Sprach- und Sachkenntnis lebendig durchdringen sollen“, lautete Grimms gewichtiges Urteil.

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Schmeller wurde 1785 in Tirschenreuth geboren. In jener Stadt in der Oberpfalz lebt auch der pensionierte Studiendirektor Werner Winkler, der sich seit vielen Jahrzehnten mit Schmeller befasst. Er sagt, er habe sich dem bedeutendsten Sohn der Stadt zugewandt, um auch auf diese spezielle Weise mit Land und Leuten vertraut zu werden. Es war der Begriff Heimat, sagt Winkler, der ihn dazu bewegt habe und der auch in Schmellers Leben eine zentrale Rolle spiele.

Nachdem Winkler bereits Schmellers Briefwechsel herausgegeben hat, legt er nun eine Biografie vor, auf die viele gewartet haben. Die Fachwelt weiß zwar über Schmeller aus einer Fülle von wissenschaftlichen Aufsätzen gut Bescheid. Und seit 1979 gibt es sogar eine Schmeller-Gesellschaft, die sich um die Popularisierung des Mammutwerks verdient macht.

Was bislang aber gefehlt hat, ist eine gut lesbare Biografie, wie sie Winkler jetzt verwirklicht hat. „Ich habe mich bemüht, dieses Buch allgemein verständlich zu schreiben“, sagt der Autor, der Schmeller „eine fast endlose Person“ nennt. Die Biografie untermauert dies aufs Eindrücklichste. Schmellers wissenschaftliches Werk ist von einer Fülle, die einen fast ratlos macht. Da ist ja nicht nur sein mehrbändiges Wörterbuch zu nennen, das von 1827 bis 1837 erschienen ist und bis heute Maßstäbe setzt, sondern beispielsweise auch die 1821 erschienene Grammatik zu den Mundarten Bayerns sowie ein Cimbrisches Wörterbuch, das aus seinen Erkundungen der deutschen Sprachinseln in Oberitalien hervorgegangen ist. 

Das Foto zeigt die Titelseite von Johann Andreas Schmellers 1821 erschienenem Werk „Die Mundarten Bayerns“. (Foto: Richard Huber /Wikipedia commons)

Schmeller besaß unglaubliche Sprachkenntnisse. Neben Latein und Griechisch eignete er sich nahezu alle mit dem Deutschen verwandten germanischen Sprachen an, vom Schwedischen über das Dänische und Norwegische bis hin zum Isländischen und Englischen. Er beherrschte Französisch, Spanisch und Portugiesisch, überdies kannte er die slawischen Sprachen sowie das Irische, Hebräische, Ungarische und in Grundzügen das Chinesische, was ihm weite etymologische Zusammenhänge eröffnete. 

Wie Schmellers Tagebücher und Briefe legt auch Winklers Buch Zeugnis von Schmellers überragendem Geist ab. „Angesichts seiner Bedeutung ist er eigentlich zu wenig bekannt“, sagt der Autor. Zu Schmellers großen Verdiensten zählt überdies die Entdeckung und Herausgabe weltliterarischer Texte wie der im 11. Jahrhundert entstandenen Carmina Burana oder des Muspilli, einer um 870 verfassten Dichtung. Es sind Pionierleistungen der Germanistik, als deren Begründer Schmeller neben den Brüdern Grimm gilt.

Außerdem katalogisierte er in der Königlichen Hof- und Staatsbibliothek in wenigen Jahren jene gut 25 000 Handschriften, die im Zuge der Säkularisation aus ganz Bayern nach München gebracht worden waren. Das System, das Schmeller dafür entwickelte, gilt als geniale bibliothekarische Leistung. „Ohne ihn würde die Staatsbibliothek heute nicht so dastehen“, sagt Winkler.

Die Biografie macht aber auch deutlich, dass Schmeller für sein Werk viel zu wenig Zeit zur Verfügung stand. Sein Leben war oft von Rückschlägen, Enttäuschungen und auch Hoffnungslosigkeit begleitet. „Das Gefühl sozialer Benachteiligung folgte dem Gelehrten wie ein Schatten“, sagt Winkler. Auch als Hauslehrer musste er manche Demütigungen einstecken. Seinem Tagebuch vertraute er einmal an: „Heute fühlte Ichs wieder, was das heißt, von andrer Gnade leben zu müssen. Ich ass bei Mad. Süss, wo mich ein niedriges Geschöpf von Magd per Er traktierte, und mir nach Belieben insultierte, weil sie wusste, dass ich das Essen umsonst bekäme. O ich hätte bersten mögen vor Zorn und Scham.“

Johann Andreas Schmeller gilt als Ausnahmegelehrter, der dennoch zeitlebens wegen seiner niederen sozialen Herkunft unter Demütigungen zu leiden hatte. (Foto: H.-D. Falkenstein/Imago)

Winklers Buch zeigt, dass in Schmellers Brust zeitlebens ein bäuerliches Herz schlug, das ihn hinderte, aufzutrumpfen und sich nach vorne zu drängen. Sich ein Auskommen zu verschaffen, das war in jener Zeit selbst für ein Genie wie ihn beschwerlich genug. Er durchmaß lange Wander-, Lehr- und Notjahre, unter anderem als Soldat und Pädagoge in Spanien und in der Schweiz, dann als Oberleutnant in bayerischen Diensten. Bis er endlich eine Anstellung an der Staatsbibliothek fand und ein Gehalt bekam. Familiäre Schicksale, politische Enttäuschungen und allgemeine Resignation waren aber weiterhin stete Begleiter.

Als der Geheimrat Josef von Hormayr Schmeller einmal den „bayerischen Grimm“ nannte, trug jener das Lob zwar in sein Tagebuch ein, fügte aber hinzu: „Ich, der bairische Grimm! Jawohl! In dem Sinne, in dem das bairische Meer, der Chiemsee, mit dem deutschen Meer, der Nordsee, mag verglichen werden.“

Auch Winklers Buch braucht keinen Vergleich zu scheuen, es wird für lange Zeit den Standard zu Schmeller setzen. „Das Werk ist ein Musterbeispiel für akribisch exakte Philologie“, lobt es der Dialektologe Ludwig Zehetner. Dies unterstreicht nicht zuletzt ein fast hundertseitiger Anhang mit Anmerkungen, Fußnoten und einer Zeittafel, die viele Wege öffnen, um sich diesem außergewöhnlichen Leben weiter zu nähern.

Winkler zieht das Fazit, Schmeller habe seinem Leben überragende, einzigartige Leistungen abgerungen, seinen inneren Frieden aber habe er nicht gefunden. Der einzig verlässliche Grund, der ihn bis zum Lebensende sicher trug und ihm zumindest zeitweise so etwas wie Identität und Heimat gewährte, waren seine Sprachforschungen, die uns bis heute vielfältige Frucht bescheren.

Werner Winkler, Johann Andreas Schmeller – Heimat finden in der Sprache, Regensburg 2024, Verlag Friedrich Pustet, 432 Seiten.

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