Ein Stadtarchiv kann ein sehr bürokratischer Ort sein, mit seinen fahrbaren Schränken und viel, wirklich sehr viel Papier. Solch ein Stadtarchiv kann aber auch ein Ort der Erleuchtung sein, so wie in Memmingen, wenn Archivar Christoph Engelhard die weißen Handschuhe überstreift. Dann holt er die kostbaren Schriften heraus, die es zu bewahren gilt. Und welches Schriftstück könnte Memmingen mehr bedeuten in diesen Tagen als ein Originaldruck der „Zwölf Artikel“?
500 Jahre ist es her, dass die Bauern den Schriftsatz als Grundlage ihrer Forderungen an die Obrigkeit übernahmen. „Ein großes Erbe unserer Stadt“, nennt Oberbürgermeister Jan Rothenbacher die Zwölf Artikel, in der die Geschichtsforschung eine der ersten deutschen Grundrechtserklärungen sieht. Aller Wahrscheinlichkeit nach stammen sie aus der Feder des Laientheologen Sebastian Lotzer, mit der zentralen und für die damalige Zeit ungeheuerlichen Forderung, die Leibeigenschaft abzuschaffen. „Dass wir frei sind und sein wollen“ propagierten die Bauern – die Ideen verbreiteten sich dank des neu erfundenen Buchdrucks rasant und im Bauernkrieg um das Jahr 1525 weit über Schwaben hinaus. Selbst im weit entfernten Breslau ging der Schriftsatz in Druck.

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„Die zwölf Artikel enthalten im Kern die Überzeugung von der Universalität der Menschenrechte. Mit dieser Überzeugung weisen sie weit über ihre Zeit hinaus“, hat Bundespräsident Johannes Rau im Jahr 2000 über die Forderungen der Bauern gesagt. Raus Nachfolger als Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, wird am Samstag zur Eröffnung der Bayernausstellung „Projekt Freiheit – Memmingen 1525“ sprechen, die Stadt hat über das Jahr verteilt ein breites Kultur-, Partizipations- und Erinnerungsprogramm erstellt. Andere Städte und Gemeinden im ganzen Allgäu gedenken des Freiheitskampfes mit eigenen Veranstaltungen.
Wie arm das Leben war, das skizziert die Bayernausstellung, konzipiert vom Haus der Bayerischen Geschichte, gleich zu Beginn des Rundgangs. Bei etwa 80 Jahren liegt die durchschnittliche Lebenserwartung heute, ist dort zu lesen. Vor 500 Jahren waren es nur 35 Jahre. Etwa ein Viertel aller Kinder starb bereits im Kleinkindalter, ein weiteres Viertel bis zum 14. Lebensjahr. Die kleine Eiszeit, eine Verkettung von Wetterextremen in Mitteleuropa, verursachte Kälteeinbrüche und Missernten. Pestwellen rollten über das Land und brachten großes Leid über die Menschen. Bäuerinnen und Bauern, Bedienstete, Handwerker, Tagelöhner machten etwa 80 Prozent der Bevölkerung aus, hatten über Abgaben an Adel und Klerus aber einen Großteil der Belastung zu tragen – und dabei so gut wie keine politischen oder sozialen Rechte.
Die Soldaten hatten Feuerwaffen, die Bauern Sensen
Es gärte also im niederen Volk, nicht nur im Allgäu, auch weit darüber hinaus, in Württemberg, Franken und Thüringen, in der Schweiz und in Tirol. Bereits 1524 starteten erste Aufstände und Unruhen, die Bauern und einfachen Arbeiter vereinigten sich: im Allgäu im sogenannten Baltringer Haufen im Unter- und Westallgäu, im Seehaufen in der Bodensee-Region und im Allgäuer Haufen im oberen Allgäu. Es waren paramilitärische Einheiten, teils nur bewaffnet mit Sensen und Mistgabeln, die dem Heer der Obrigkeit mit seinen Feuerwaffen und der Reiterei, das sich im Schwäbischen Bund zusammengeschlossen hatte, kaum etwas entgegenzusetzen hatte.
Dabei wollten die Bauern und ihre Anführer ja auch verhandeln und so ihr Leben verbessern. Memmingen stand der Sache der Bauern aufgeschlossener gegenüber als andere Städte, hier versammelten sich die Revolutionäre ein ums andere Mal, hier lebten Christoph Schappeler und Sebastian Lotzer. Schappeler, Prediger in der Martinskirche, geißelte die soziale Ungerechtigkeit und sprach über Reformen in Kirche und Gesellschaft. Lotzer, der nur ein paar Häuser entfernt wohnte und Kürschner von Beruf war, tat sich als Laienprediger und Autor von reformatorischen Flugschriften hervor.

Der Baltringer Haufen engagierte ihn als Heerschreiber. Lotzer war nah dran, er bekam mit, was das gemeine Volk bewegte: Nach aktuellem Stand der Forschung war er es, der die Forderungen Ende Februar 1525 in bündiger Form zusammenfasste. „Es wurde wohl auch deshalb ein Bestseller“, sagt Stadtarchivar Engelhard, „weil Lotzer es verstand, die Bedürfnisse verständlich zu formulieren und sie anhand von Bibelstellen zu unterstreichen.“
Jagd und Fischerei sollen frei sein, forderten die Bauern. Der Kleinzehnt und der Großzehnt sollten teils aufgehoben, teils gerechter verwendet werden, die Abgaben „durch ehrbare Leute“ neu eingeschätzt werden. Wälder und Forsten sollten in Gemeindehand übergehen, ehemalige Gemeindewiesen und -äcker zurückgegeben werden. Willkürliche Strafen sollten der Vergangenheit angehören, Abgaben an die Herren bei Todesfällen gestrichen werden. Über allem aber stand Artikel drei: die Abschaffung der Leibeigenschaft.
Vertreter der drei Allgäuer Haufen kamen Anfang März in der Kramerzunftstube zusammen, das Haus steht noch heute, die schwere Holzdecke darin gab es damals schon. Die Bauern schlossen sich in einer „Christlichen Vereinigung“ zusammen und nahmen die Zwölf Artikel als Forderungskatalog an. Gleichzeitig verpflichteten sie sich zur Anerkennung des Evangeliums, womit sie sich auf göttliches Recht berufen konnten. In Mitteldeutschland mussten Adelige die Ideen der Zwölf Artikeln, die sich rasant verbreiteten, teils annehmen. Doch selbst Martin Luther distanzierte sich von den Anliegen der Bauern, rief gar dazu auf, die Aufständischen zu töten – obwohl seine Standpunkte zur Reformation doch wichtige Rechtfertigung für die Revolutionäre waren.

Truchsess Georg von Waldburg-Zeil, genannt Bauernjörg, Heerführer des Schwäbischen Bundes, schlug die Aufstände der Reihe nach nieder, sein Feldzug dauerte knapp sechs Monate. In Württemberg, Franken und schließlich Schwaben und im Allgäu kämpfte er gegen die Aufständischen, verfolgte ihre Anführer, ließ manche von ihnen hängen und zahlreiche Bauernhöfe in Brand stecken. Christoph Schappeler und Sebastian Lotzer flohen aus Memmingen. Viele Tausend Aufständische verloren allein im Allgäu ihr Leben, mehrere Zehntausend im gesamten Bauernkrieg. Im Sommer 1525 war der Aufstand, den manche als den größten Aufstand in Europa vor der Französischen Revolution bezeichnen, weitgehend beendet.
Viel erreicht hatten die Bauern nicht, erst Jahrhunderte später setzten sich einige ihrer zentralen Forderungen durch. Die Fragestellungen aber, die Forderungen nach Grundrechten und Freiheit, die sie bereits im 16. Jahrhundert aufgeworfen haben, „sind aktueller denn je“, sagt Memmingens Oberbürgermeister Rothenbacher. Umso wichtiger sind ihm die Veranstaltungen, die in seiner Stadt und darüber hinaus das ganze Jahr über stattfinden, sei es in Ausstellungen, Theaterstücken oder anderen Aktionen.
Sein Lieblingsprojekt ist die Graphic Novel des Historikers und Künstlers Giulio Camagni: „1525 - Der Aufstand“, in dem der Bauernkrieg in verschiedenen Erzählsträngen mit Aquarellmalerei und Sprechblasen wie in einem Comic aufgearbeitet wird. „Niedrigschwelliger kann man so ein komplexes Thema nicht darstellen“, sagt Rothenbacher. Und das ist ja das Ziel des Festjahres: Die Bedeutung dieser Ereignisse, die vielen Deutschen noch immer nicht präsent sind, möglichst vielen Menschen näherzubringen.
Die Zwölf Artikel
- 1. Jede Gemeinde hat ein Recht zu Wahl und Absetzung ihres Pfarrers.
- 2. Der Kleinzehnt solle aufgehoben, der Großzehnt für Geistliche, Arme und Landesverteidigung verwendet werden.
- 3. Die Leibeigenschaft solle aufgehoben werden.
- 4. Jagd und Fischerei sollen frei sein. Falls Verkäufe vertraglich belegt werden können, sollen einvernehmliche Regelungen zwischen Gemeinde und Rechtsinhabern angestrebt werden.
- 5. Wälder und Forsten sollen in Gemeindehand zurückgegeben werden. Sollten Verträge bestehen, werden gütliche Vereinbarungen mit den Forstinhabern angestrebt.
- 6. Die Frondienste sollen auf ein erträgliches Maß reduziert werden, orientiert an Herkommen und Evangelium.
- 7. Außervertragliche Frondienste sollen nicht zugelassen sein, es sei denn gegen eine angemessene Vergütung.
- 8. Die Abgaben der Bauern sollen durch „ehrbare Leute“ neu eingeschätzt werden.
- 9. Die Strafmaße für schwere Vergehen sollen neu festgesetzt werden, orientiert an älteren Gerichtsordnungen.
- 10. Ehemalige Gemeindewiesen und -äcker sollen zurückgegeben werden, es sei denn, dass Kaufverträge vorgelegt werden können.
- 11. Die Zahlung des Todfalles belastet die Erben ungebührlich und wird deswegen zukünftig verweigert.
- 12. Alle Forderungen ergeben sich aus dem Wort Gottes. Sollten sie sich durch die Schrift als unberechtigt erweisen, sollen sie hinfällig sein.