SZ-Serie: Vogelwuid:"Die zersetzt alles, außer das Calzium der Knochen"

Lesezeit: 4 min

Bartgeier sind die einzige Tierart weltweit, die fast ausschließlich Skelettteile frisst. Wenn sie einen Gamslauf am Stück runterschlucken, geht es anschließend wegen der Magensäure regelrecht ätzend zu.

Von Christian Sebald, Ramsau

Bartgeier sind hart im Nehmen. Deshalb hat Wally und Bavaria die erste große Hitzeperiode des Jahres nichts ausgemacht. "Natürlich hat sich die Felsnische oben am Knittelhorn richtig aufgeheizt, am heißesten Tag waren es 36 Grad", sagt Toni Wegscheider. "Aber Wally und Bavaria hat man nichts angemerkt, sie haben nur die Schnäbel ein wenig offen gehabt und gehechelt, wie Vögel das bei Hitze tun." Dazu muss man wissen, dass Bartgeier mit einem extrem großen Temperaturspektrum zurechtkommen. "In Nordafrika oder im südspanischen Andalusien, wo Wally und Bavaria herstammen, sind 40 Grad keine Seltenheit", sagt Wegscheider. "Und im Himalaja, wo Bartgeier in bis zu 7000 Meter Höhe leben, geht es schon mal runter auf minus 40 Grad."

Im Nationalpark Berchtesgaden, wo vor zwei Wochen das Bartgeier-Wiederansiedlungsprojekt des Landesbundes für Vogelschutz (LBV) begonnen hat, beobachten Projektleiter Wegscheider und sein Team von früh bis spät, wie es Wally und Bavaria oben in der Felsnische ergeht. Und was soll man sagen? "Es geht ihnen weiter ausgezeichnet", sagt Wegscheider. "Gerade was das Fressen anbelangt."

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Bartgeier galten in den Alpen bereits als ausgerottet. Doch allmählich kehren sie wieder zurück. Im Nationalpark Berchtesgaden wildert der Landesbund für Vogelschutz (LBV) nun zwei Jungtiere aus. LBV-Chef Norbert Schäffer über den Erhalt einer besonderen Art.

Interview von Christian Sebald

Bartgeier zählen ja bekanntlich zu den Aasfressern. Aber das ist eigentlich nur die halbe Wahrheit. Sie sind die einzige Tierart weltweit, die sich fast ausschließlich von Knochen ernährt. Zumindest was die adulten Greifvögel anbelangt. "Damit sind sie das letzte Glied in der Reihe der großen Aasfresser, zu denen hierzulande vor allem der Steinadler und der Kolkrabe, aber auch der Fuchs und - in einigen Regionen - wieder der Wolf gehören", sagt Wegscheider. "Erst wenn die anderen Aasfresser das Fleisch eines Kadavers so gut wie vertilgt haben, kommt der Bartgeier und holt sich die Knochen." Und wenn ihm noch zu viel Fleisch an ihnen hängt, dann löst er es mit seinem Schnabel ab, bevor er sie verschlingt.

Auf den ersten Blick vermutet man es nicht. Aber Knochen sind ein durchaus nahrhaftes Fressen und in einigen Punkten sogar Fleisch überlegen. "Sie enthalten bis zu zwölf Prozent Eiweiß und 16 Prozent Fett, dazu kommen viele Mineralien", sagt Wegscheider. "Und ungefähr 50 Prozent sind Wasser." Alles in allem bringen sie sehr gute Nährwerte. Der Oberschenkelknochen eines Hirschs zum Beispiel hat laut Wegscheider sogar mehr Kalorien als die Keule um ihn herum. Außerdem sind Knochen monatelang haltbar. Fleisch dagegen verwest sehr schnell. Auch dass Knochen austrocknen, wenn sie draußen herumliegen, ist nicht unbedingt von Nachteil. Der Wasserverlust fördert vielmehr die Haltbarkeit ihres Eiweißes und des Fetts im Knochenmark.

Wenn ein Bartgeier ein Skelett aufgetan hat, hat er wochenlang Futter. "Die Tiere brauchen vielleicht 300 bis 400 Gramm Knochen am Tag, mehr nicht", sagt Wegscheider. "Ein Skelett einer Gämse oder eines abgestürzten Schafs reicht einem Bartgeier knapp einen Monat. Aufs Jahr gesehen sind das zwölf bis maximal 20 tote Gämsen." Das ist wirklich nicht viel. Zumal das Streifgebiet so eines Bartgeiers, in dem er nach Kadavern Ausschau hält, ein Vielfaches größer ist als beispielsweise der Nationalpark Berchtesgaden. Was das Futter anbelangt, bekommen die Bartgeier laut Wegscheider in den bayerischen Bergen gewiss keine Probleme. "Da gibt's so viele tote Gämsen und anderes Fallwild, dass es sicher ausreicht", sagt Wegscheider. Fallwild ist der Fachterminus für Wildtiere, die durch Lawinen, Steinschlag oder Abstürze ums Leben gekommen sind, also nicht von Jägern erlegt worden sind.

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Wenn sich ein Bartgeier über ein Skelett hermacht, ist das ein richtiges Spektakel. "Die Greifvögel bringen 25 bis 30 Zentimer große Gamsläufe oder faustgroße Rinderwirbel im Ganzen hinunter", berichtet Wegscheider. Sie können ihren Schnabel so weit aufreißen wie kein anderer Greifvogel. Außerdem sind ihre Mundhöhle, die Speiseröhre und der Magen enorm dehnbar. Die Tiere schlucken die meisten Knochen sehr schnell, es dauert in der Regel keine halbe Minute. Als Schutz gegen scharfkantige Teile sind die Wände der Speiseröhre verdickt. "Und wenn doch einmal ein Knochen zu groß ist, packen sie ihn mit den Krallen und tragen ihn in die Luft", sagt Wegscheider. "Aus 50 bis 80 Meter Höhe lassen sie ihn dann zu Boden fallen, immer wieder, bis er in schnabelgerechte Teile zerbrochen ist."

Das Verdauungssystem ist ebenfalls einzigartig. "Die Magensäure der Bartgeier ist so scharf wie Batteriesäure", sagt Wegscheider. "Die zersetzt alles, außer das Calzium der Knochen. Das wird später ausgeschieden." Der Kot der Bartgeier ist extrem fest und hell. "Er sieht aus wie einige Zentimeter kleine Pellets." Wie die Magenschleimhaut die Verdauung der Knochen aushält, ist unklar. "Ein Mensch hätte bei so einer scharfen Magensäure schnell ein extremes Magengeschwür, da würd' sich alles komplett entzünden", sagt Wegscheider. Zumal die Verdauung so eines Knochens einen Tag und länger dauert. Wie andere Greifvögel produzieren auch Bartgeier Gewölle. "Es besteht aus ebenfalls unverdaulichem Horn von Hufen und Haaren an den Knochen", sagt Wegscheider, "und wird wie bei Gewölle üblich herausgewürgt".

Wally und Bavaria sind freilich nicht nur am Fressen. "Sie sind immer mehr in der Felsnische unterwegs", sagt Wegscheider. "Und zwar auch in den vorderen Bereichen, wo sie ziemlich steil abfällt." Von dort wieder in die geschützten Bereiche unter dem Felsüberhang hinaufzukommen, fällt Wally und Bavaria noch einigermaßen schwer. Sie müssen etliche kräftige Hopser hinlegen und heftig mit den Flügeln schlagen, bis sie wieder oben sind. "Doch die beiden sind fleißig am Üben", sagt Wegscheider. "Und es klappt immer besser." Wenn es alles weiterläuft, wie geplant, werden Wally und Bavaria nach mehr als hundert Jahren die ersten frei lebenden Bartgeier in Bayern sein.

Die Greifvögel waren einst auch in den Alpen rund um Berchtesgaden und anderswo daheim. Doch wie überall wurden sie auch dort gnadenlos gejagt. Anfang des 20. Jahrhunderts waren sie alpenweit ausgerottet. Der Grund war der weit verbreitete Volksglaube, dass sie auch auf Schafe und sogar Kleinkinder aus sind. Dabei tun Bartgeier weder Tieren und schon gar nicht Kindern etwas zuleide.

Inzwischen steht Gypaetus barbatus, wie die Art auf Lateinisch heißt, für eine sehr erfolgreiche internationale Kooperation im Naturschutz. In den Alpen wurden die ersten Exemplare in den Achtzigerjahren wiederangesiedelt - in den Hohen Tauern und wenig später am Ortler und im Mont-Blanc-Gebiet. Aktuell beträgt die Bartgeier-Population alpenweit etwa 300 Exemplare. Nun will der LBV helfen, die Lücke zum Balkan zu schließen. Im Nationalpark Berchtesgaden sollen deshalb bis 2030 jedes Jahr zwei oder drei Jungtiere ausgewildert werden.

Wally und Bavaria kann man sich auch im Livestream ansehen: www.lbv.de/bartgeier-webcam

© SZ vom 25.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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