Organisierte Kriminalität in Bayern:Nadelstiche gegen Rocker

Prozess gegen Pforzheimer Rocker

Baseballschläger kommen gelegentlich zum Einsatz, wenn verfeindete Rockerbanden aufeinander treffen. In Bayern passiert das nicht so oft.

(Foto: Marius Becker/dpa)

Attacken wie kürzlich in München sind selten in Bayern, offene Bandenkriege werden eher anderswo ausgetragen. Doch auch im Freistaat gibt es Organisierte Kriminalität - und die hat nichts mit Motorradromantik zu tun.

Von Johann Osel

Die "Einweihungsfeier" mündete in Gewalt und Zerstörung, damals im mittelfränkischen Schwabach. Ein Mann, der wegen mutmaßlichen Drogenhandels bereits im Fokus von Ermittlungen stand, wollte in einem Tattoostudio eine Niederlassung ("Chapter") der rockerähnlichen Gruppierung "United Tribuns" (UT) eröffnen. Zur "Abnahme und Gründungsfeier", wie es die Polizei nannte, wurden fünf Gesandte des Chefs der international agierenden UT erwartet. Doch Glückwünsche hatten sie nicht dabei - sondern unterbanden die Gründung auf Befehl aus Bosnien, verätzten Kutten und Insignien mit Säure, verwüsteten alles und verprügelten die fränkischen Rocker. Dabei diente ein Minigolfschläger als Hiebwaffe, was später als versuchter Totschlag gewertet wurde. Weitere Ermittlungen führten zu Drogengeschäften, die UT sollen zudem europaweit unter anderem im Menschenhandel aktiv sein.

Die Attacke vor gut zweieinhalb Jahren erwähnen Innen- und Justizministerium als Fallbeispiel im jüngsten Lagebild Organisierte Kriminalität. "Der Fall veranschaulicht die erhebliche Gewaltbereitschaft in der Rockerszene", hierbei als interne Sanktion, nicht gegen konkurrierende Banden.

Ein externer Konflikt steht offenbar hinter dem Vorfall vergangene Woche in München. Nachdem ein Transporter in eine Menschengruppe gefahren ist, ermittelt die Polizei im Rockermilieu. Details sind noch unklar, doch in Sicherheitskreisen bundesweit ist seit Längerem von zunehmenden Revierstreitigkeiten die Rede; auch wegen neuer Akteure. Drohen künftig weitere Eskalationen? Wie gehen die Behörden gegen Rocker vor und wie ist es allgemein bestellt um die Szene im Freistaat?

Innenminister Joachim Herrmann versprach nach der Tat schnelle Aufklärung. "Es ist unerträglich, dass solche Bandenkriege auf offener Straße ausgetragen werden", sagte der CSU-Politiker. Sein Haus gab auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung Entwarnung: Die Auseinandersetzungen in der bundesweiten Rockerszene seien in der Vergangenheit vorwiegend vor dem Hintergrund selbst erhobener Machtansprüche ausgetragen worden. "Derartige Konflikte sind in Bayern vergleichsweise selten zu verzeichnen gewesen. Auf den aktuellen Fall bezogen handelt es sich nach derzeitigem Stand der Ermittlungen nur um einen lokalen Konflikt." In Bayern - im Vergleich zu anderen Ländern, wo es öfters zu offenen Fehden kam - ist die Lage "eher ruhig", stellt auch der Verfassungsschutzbericht für 2019 fest. Dennoch zeigt sich ein beträchtliches Personenpotenzial, das als "polizeilich relevant" gilt: 1600 Rocker.

"Einprozenter" wird der potenziell kriminelle Teil der Rocker genannt

Mit dem US-Begriff "Outlaw Motorcycle Gang" (OMCG) werden weltweit polizeilich bedeutsame Rockerclans von der breiten Masse der Motorradclubs (MCs) abgegrenzt. Gleich nach den Meldungen über die Münchner Attacke wehrten sich in sozialen Medien herkömmliche Rocker gegen einen Generalverdacht. Für den potenziell kriminellen Teil, den es freilich gibt, verwenden auch die Rocker selbst den Begriff "Einprozenter" - im Gegensatz zu den 99 Prozent, die sich nicht außerhalb der Gesetze sehen. OMCGs haben Dutzende Ortsgruppen in allen Regierungsbezirken (die bekanntesten sind Hells Angels, Bandidos, Outlaws und Gremium MC), auch auf dem Land. Aufsehen erregte kürzlich der Chefs der Hells Angels im Landkreis Rosenheim. Er musste wegen Zwangsprostitution und weiterer Delikte in Haft. Zudem gibt es Unterstützer der Einprozenter sowie rockerähnliche Gruppierungen - wie eben "United Tribuns", die in vier bayerischen Großstädten registriert werden. Diese Gruppen ähneln in Struktur und Auftreten den Rockern, Motorräder spielen jedoch nicht die Hauptrolle. Auch gibt es mehr Fluktuation, weniger rituelle Regeln. Selbiges zeigt sich bei den rockerähnlichen "Black Jackets", die etwa in Augsburg aktiv sind und von denen nun ein Mitglied in München das Opfer von Hells Angels geworden sein soll.

"Die Szene ist in Bewegung", sagt Katharina Schulze, Fraktionschefin und innenpolitische Expertin der Grünen. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit Rockerkriminalität und hat mehrere Anfragen dazu an die Staatsregierung gestellt. Gerade jüngere Gruppierungen setzten "auf weniger ,Motorradromantik', dafür auf noch mehr Gewalt". Die breite Präsenz zeige: "Die kriminelle Rockerszene ist ein Problem in ganz Bayern." Der Verfassungsschutz berichtet zudem von Verquickungen mit Vertretern des Gangster-Rap und der Kampfsportszene; früher verdeckt, mittlerweile im Internet offen zur Schau gestellt. Punktuell gibt es Überschneidungen mit Rechtsextremisten, meist auf Basis "geschäftlicher" Interessen. Der Verdacht auf ideologische Annäherung wurde bis dato nicht erhärtet. Große Teile der Neonazi-Szene lehnen Rockerclubs wegen der dort oft hohen Anteile an Migranten ab. Türkisch-nationalistische Rockergruppen sind in Bayern eher auf dem Rückzug, wegen des Verbots eines Vereins und anderer Auflösungstendenzen.

Bei der Vorstellung des Lagebilds Organisierte Kriminalität (OK) Ende 2019 verwiesen Herrmann und Justizminister Georg Eisenreich darauf, dass Bayern "bestens gerüstet" sei, etwa durch spezialisierte OK-Abteilungen. Auch bei Rockern gelte eine "Null-Toleranz-Strategie". Das Innenministerium ergänzt, dass schon niedrigschwellig eingeschritten werde, etwa über das Verkehrsrecht. Dies sei Aufgabe "aller" bayerischen Dienststellen. In Bayern darf auch der Verfassungsschutz im Kampf gegen OK und damit kriminelle Rocker mitmischen. Laut Lagebild wurden binnen zwei Jahren OK-Verfahren gegen insgesamt 74 Tatverdächtige aus der Rockerszene geführt, Schwerpunkt Drogen. Das Dunkelfeld dürfte riesig sein - OK-Ermittlungen gibt es bei geschäftsmäßig, arbeitsteilig begangenen Straftaten von erheblicher Bedeutung. Kleinkriminalität im Bereich des Nachtlebens, in denen Rockerbanden oft tätig sind, zählt nicht unbedingt dazu.

"Zermürben" oder "Nadelstiche" - das hört man in Polizeikreisen, wenn es um Rocker geht: vor allem durch Razzien und Präsenz. Chapter gäben Geschäfte auf, wenn sie durch polizeilichen Druck weniger lukrativ zu werden drohten. Die abgeschotteten Strukturen erschwerten aber das Vorgehen - "keine ermittlungsfördernden Verhaltensweisen". Aufnahmeregeln und langes "Hochdienen" machten das Platzieren von Spitzeln schier unmöglich; Aussteiger packten selten aus, der Ehrenkodex wirke nach, Einschüchterung komme hinzu.

Der Entzug der Waffenerlaubnisse gehört zur Strategie der Nadelstiche

Zur Strategie der Nadelstiche gehört der Entzug von Waffenerlaubnissen durch die Landratsämter, wie er auch bei "Reichsbürgern" forciert wird. So stellte 2019 das Verwaltungsgericht Ansbach fest, dass sogar ein Prospect (Anwärter) bei einem Einprozenter als waffenrechtlich unzuverlässig gilt - und selbst dann, wenn der Betroffene bisher nicht strafrechtlich auffiel. Die "negative Prognose" hinsichtlich der waffenrechtlichen Zuverlässigkeit reiche, so die Richter. Der Verwaltungsgerichtshof hat ein solch hartes Vorgehen schon bestätigt.

Katharina Schulze fordert eine noch intensivere Befassung mit bandenmäßiger und organisierter Kriminalität, und dort gerade auch mit der Rockerszene. Nötig sei eine bessere Ausstattung, insbesondere an Fachdienststellen der Kripo. Und: Ausführliche Lagebilder müssten auch "das kriminelle Rocker-Dunkelfeld ausleuchten".

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