Arbeitsmarkt:10 000 junge Leute suchen noch einen Ausbildungsplatz

Einzelhandel

Rein statistisch kommen in Bayern auf einen Bewerber drei Ausbildungsplätze. Aber das ist reine Statistik. Zum Beispiel gab es bei den Medizinischen Fachangestellten etwa 1000 Stellen weniger als Bewerber. Andersherum im Einzelhandel: 7003 Kaufleute waren gesucht, werden wollten es 2972.

(Foto: Marijan Murat/dpa)

Und das, obwohl das neue Ausbildungsjahr bereits begonnen hat. Die sogenannte Nachvermittlung könnte an Grenzen stoßen - doch die Arbeitgeber haben Neues für sich entdeckt.

Von Maximilian Gerl, Nürnberg/München

Frühling und Lockdown waren vorüber, da sah Alexander Dietz "das spannendste Ausbildungsjahr seit Jahrzehnten" nahen. Nun ist der September da und Dietz fühlt sich bestätigt. Er kümmert sich in der Handwerkskammer für München und Oberbayern um Ausbildungsthemen, er ist nah dran, was zwischen Betrieben und ihren künftigen Lehrlingen passiert. Oder eben nicht. "Bis Ende Juli sah es nicht gut aus", sagt Dietz. Doch seitdem sind Azubis offenbar wieder gefragt, bei Dietz und den Kollegen häufen sich die Anfragen. Das, sagt Dietz, mache das Minus der vergangenen Monate hoffentlich "ein bisschen" wett.

Das Minus ein bisschen wettmachen - eine bessere Parole wird die Wirtschaft in diesem Corona-Jahr nicht mehr finden, in dem sich so vieles aufgestaut und verzögert hat. Auch in der beruflichen Bildung. Ende August führten die Jobcenter bayernweit noch 10 621 Interessenten auf einen Ausbildungsplatz - von insgesamt rund 68 000, die in den vergangenen Monaten bei ihnen vorstellig geworden waren. Rein rechnerisch ist also ungefähr einer von sieben Bewerbern derzeit "unversorgt", wie es im Jargon der Arbeitsmarktexperten heißt. Dabei hat zum September das neue Ausbildungsjahr bereits begonnen.

Der sogenannten Nachvermittlung, bei der Unternehmen und Lehrlinge im Laufe des Herbstes zueinander finden, kommt damit dieses Jahr besondere Bedeutung zu. Denn im Zuge von Lockdown und Pandemie waren vielerorts Vorstellungsgespräche, Ausbildungsmessen und Praktika ausgefallen. Vor allem aber lag die Kommunikation lange brach. Manchmal wussten die Vermittler in Jobcentern und Kammern gar nicht, wie es bei Betrieben und Bewerbern gerade aussah. Auch von Seiten der Schulen waren Klagen zu hören, dass der Kontakt zur Wirtschaft abgerissen sei.

Längst wird versucht, das Versäumte aufzuholen. Doch vor allem in Industrie und Handel scheinen krisenbedingt Stellen weggefallen zu sein. Für diesen Bereich meldeten die IHKs zum September 40 731 neue Azubis, 15 Prozent weniger als im Vorjahr. Das Handwerk zählte 20 643 neue Verträge und einen Rückgang von 8,6 Prozent. Die Regionaldirektion Bayern der Arbeitsagentur verzeichnete branchenübergreifend ein Minus von 6,4 Prozent bei den Bewerbern und eines von sieben Prozent bei den Lehrstellen. Die Krise verschärft damit ein demografisches Problem: Seit Jahren kommen weniger Schulabgänger nach, während die Generation der Babyboomer in den Ruhestand geht.

Fachkräfte werden auch nach Corona rar sein. Kammern wie Jobcenter appellieren darum an Interessierte, sich nicht von der Lage verschrecken zu lassen. Tatsächlich ist es nicht unüblich, die Ausbildung quasi verspätet anzutreten. "Grundsätzlich ist der Start jederzeit und zu jedem Tag im Jahr möglich", sagt Dietz. Wer am 15. Oktober oder 15. November beginne, könne in der Regel den Schulstoff gut nachholen.

Passen die Stellen zu den Bewerbern?

Trotzdem bleibt es schwer abzuschätzen, wie viel die Nachvermittlung bewirken kann. Zwar sind die Bewerber statistisch weiter im Vorteil, auf einen von ihnen kommen derzeit drei Stellen. Nur ob diese passen, ist die Frage. 4690-mal - und damit am häufigsten - registrierte die Regionaldirektion den Wunsch, eine Ausbildung als Kauffrau oder -mann für Büromanagement zu beginnen. Aber nur 4423 Stellen waren bei den Jobcentern gemeldet. Noch größer war die Lücke in anderen Zweigen. Zum Beispiel gab es bei den Medizinischen Fachangestellten etwa 1000 Stellen weniger als Bewerber.

Arbeitsmarkt: Alexander Dietz ist bei der Handwerkskammer für München und Oberbayern unter anderem auch zuständig für Grundsatzfragen der Berufsbildung.

Alexander Dietz ist bei der Handwerkskammer für München und Oberbayern unter anderem auch zuständig für Grundsatzfragen der Berufsbildung.

(Foto: Thomas Einberger/argum/oh)

Andersherum ist es im Einzelhandel: 7003 Kaufleute waren gesucht, werden wollten es 2972. Mobilität könnte zunehmend wichtiger werden, der nächste Ausbildungsplatz ist ja womöglich weit weg. Doch bei diesem Thema stellte der DGB Bayern unlängst "massiven Nachholbedarf" fest: Viele Lehrlinge verdienten wenig und benötigten finanzielle Entlastung. Der DGB fordert ein günstiges Azubi-Ticket, zusätzlich zu den in manchen Verkehrsverbünden eingeführten oder geplanten 365-Euro-Tickets für junge Menschen.

Noch schwerer abzuschätzen ist naturgemäß, wie das Schuljahr laufen wird - für die Azubis selbst wie für alle, die ihnen im September 2021 nachfolgen wollen. Eigentlich sind in der achten Klasse Betriebspraktika vorgesehen, sie gelten gerade an den Mittelschulen als wichtige Orientierungshilfe. Doch ob und wie sie stattfinden, wird wohl vom Infektionsgeschehen abhängen. In einem Corona-FAQ des Kultusministeriums heißt es, Praktika könnten "in Phasen des Präsenzunterrichts" und "des Lernens zu Hause" durchgeführt werden. Vorausgesetzt: "die Bereitschaft des Betriebs, die Einhaltung des Infektionsschutzes sowie die Sicherstellung einer angemessenen Betreuung im üblichen Rahmen".

Immerhin etwas Positives bringt Corona - mehr Kreativität. So haben viele Firmen plötzlich virtuelle Vorstellungsgespräche für sich entdeckt. In Nürnberg plant die örtliche IHK für Ende Oktober zwei "Nachvermittlungs-Days", bei der Interessierte sich per Videotelefonie mit potenziellen Arbeitgebern austauschen können: Ein ähnliches Format im Juni habe gezeigt, dass die Gespräche trotz der Distanz sehr persönlich liefen. Und Dietz und Kollegen organisieren für den Raum München eine neue Form der Ausbildungsmesse. Bei der "Last Week" sollen von 21. September an eine Woche lang Betriebe und Bewerber im digitalen Raum zueinanderfinden. "Das ist auch ein Test für uns", sagt Dietz. Nach diesem ungewöhnlichen Schuljahr "müssen wir den jungen Menschen eine Möglichkeit geben, sich zu orientieren".

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