Graben:Mit der Stoppuhr vor der Toilette

Graben: Etwa 300 Mitarbeiter des Amazon-Verteilzentrums in Graben demonstrieren am Mittwoch gegen die Arbeitsbedingungen bei dem Online-Händler.

Etwa 300 Mitarbeiter des Amazon-Verteilzentrums in Graben demonstrieren am Mittwoch gegen die Arbeitsbedingungen bei dem Online-Händler.

(Foto: Verdi)

Angestellte von Amazon streiken für einen Tarifvertrag und beklagen die Arbeitsbedingungen in den riesigen Verteilzentren. Der Konzern hingegen gibt sich arglos.

Von Florian Fuchs

Ganz in der Früh gab es schon Ärger, sagt Verdi-Sprecherin Sylwia Lech. Die Polizei kam vorbei, weil die Streikenden ein paar Parkplätze in Beschlag genommen hatten. Über den Einsatz kann sich Lech noch später, gegen 7.30 Uhr morgens aufregen. Aber der Streik geht natürlich weiter, jetzt stehen die Mitarbeiter von Amazon am Logistikzentrum Graben vor den Toren Augsburgs halt direkt vor dem Eingang und dort, wo ein paar Fahrräder untergestellt sind. Etwa 300 Angestellte streiken hier für einen Tarifvertrag, wie auch Kollegen an anderen Standorten deutschlandweit. Die Stimmung zwischen Management und Arbeitern, das zeigt nicht nur die Alarmierung der Polizei, ist ziemlich angespannt.

Die Arbeitsbedingungen bei Amazon stehen seit Jahren in der Kritik, erst vor ein paar Wochen hatte Verdi in Graben schon einmal zum Streik aufgerufen: Die Arbeitsbedingungen sollen tarifvertraglich abgesichert werden. Im Fokus: die Pausenregelungen. Mehrere Streikteilnehmer erzählen am Mittwochmorgen vor dem Tor des riesigen Verteilzentrums, dass sie 35 Minuten Pause haben. Sobald der Gong ertönt, marschieren sie los. Ertönt der Gong wieder, sollen sie bereits am Arbeitsplatz im Lager zurück sein. "Von den 35 Minuten gehen also fünf Minuten für den Weg zur Kantine drauf, dann fünf Minuten für den Weg zurück, und dann steht man lange an der Schlange an und hat am Ende nur noch Zeit, das Essen kurz runter zu schlingen", erzählt einer der Streikteilnehmer. Eine erholsame Pause sehe anders aus, so klagen sie hier. Zumal Vorgesetzte offenbar genau kontrollieren, wer zu spät kommt. "Letztens hat sogar einer gestoppt, wer wie lange auf der Toilette war", sagt ein anderer Mitarbeiter. "Da geht es im Knast entspannter zu."

Seinen Namen will keiner der Streikenden in der Zeitung lesen. "Das gäbe großen Ärger", da sind sie sich hier sicher. Aber sie erzählen, dass sie teils mehr als zehn Jahre an dem Standort bei Amazon arbeiten. Am Ende des Monats bleiben ihnen trotzdem nur 1700 bis 1800 Euro netto, je nach Steuerklasse vielleicht ein bisschen mehr. "Davon kannst du keine Familie ernähren", sagt ein Vater mit vier Kindern. 400 Euro brutto gibt es Weihnachtsgeld. Die Einkommen der Beschäftigten blieben durch längere Arbeitszeiten und niedrige oder fehlende Sonderzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld oft um mehrere Hundert Euro unter denen ihrer Kolleginnen in vergleichbaren tarifgebundenen Unternehmen, heißt es bei Verdi. Ziel sei deshalb die Anerkennung der Flächentarifverträge des Einzel- und Versandhandels. Gesprächsbereitschaft bei den Amazon-Verantwortlichen hat Verdi-Sprecherin Lech bislang allerdings nicht ausgemacht.

Das Unternehmen hält sich für einen guten Arbeitgeber

12,42 Euro brutto verdienen Mitarbeiter bei Amazon Graben zum Einstieg plus Extras, teilt ein Unternehmenssprecher mit. Nach zwölf und 24 Monaten erhöhe sich der Lohn automatisch. Aus Sicht von Amazon ein "fairer Lohn" mit "attraktiven Zusatzleistungen". "Wir sind auch ohne Tarifvertrag ein guter Arbeitgeber." Die Kritik an der Pausenregelung kann das Unternehmen ebenfalls nicht nachvollziehen. Neben der Kantine, heißt es auf Anfrage, gebe es im Gebäude dezentrale Pausenräume, die mit Kühlschränken, Mikrowellen, Automaten, Tischkickern und anderen Spielen ausgestattet sind. "Diese können bequem in kürzester Zeit vom Arbeitsplatz aus erreicht werden."

Die Streikenden berichten auch, dass die Arbeitsziele nicht zu schaffen seien. 250 Stück an Waren müssten pro Person und Stunde eingelagert werden, 350 Stück sogar für den Versand bereitgestellt werden. "Wer das überhaupt schafft, ist danach völlig fertig", sagen die Angestellten. Vonseiten Amazons heißt es dazu, dass "Produktivitätsrichtwerte nach objektiven Gesichtspunkten festgelegt und über längere Zeiträume evaluiert" würden. Für Verdi und die Streikenden ist das nicht befriedigend: Sie haben den Streik deshalb am Mittwoch bis Ende der Woche verlängert.

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