Ist das wirklich die bayerische AfD? "Freiwillige vor, es gibt einen Spitzenkandidaturplatz zu vergeben", sagt der Versammlungsleiter. Am Antragstisch steht niemand, die Bewerberliste für den Bundestag auf dem Bildschirm ist leer. Dann meldet sich der Bundestagsabgeordnete Peter Boehringer, sein Name war intern bereits als Favorit genannt worden. Er bleibt einziger Kandidat, 94 Prozent der Delegierten wählen ihn zum Listenführer - und damit zum Gesicht für den Wahlkampf. Erstaunlich diszipliniert für eine AfD, die bei der Liste vor vier Jahren noch ihren damaligen Landeschef Petr Bystron auf Platz eins abservierte. Und in der normalerweise nichts harmonisch abläuft, sondern alles überlagert ist vom Kampf der verfeindeten Parteiströmungen. Auch das spielt jetzt keine Rolle. Erst mal.
Die AfD hat im mittelfränkischen Greding am Wochenende mit ihrer Listenaufstellung begonnen. Angesetzt sind sieben Einzeltermine bis Mitte Juni. Das liegt daran, dass bei der AfD ein geordnetes Vorgehen wie anderen Parteien unüblich ist: Konsensfähige Tableaus mit einzelnen Überraschungskandidaten gibt es nicht - vielmehr ist jeder Platz ein hartes, offenes Rennen. Wegen der Pandemie fand das Treffen nicht wie sonst als Mitgliederparteitag statt, sondern erstmals als Delegiertenversammlung. Ein Präsenztermin unter Hygieneauflagen wie Masken oder festen Sitzplätzen. Das klappte zum Auftakt passabel, aber auch nicht immer. "Verdammt noch mal und zugenäht, verstehen Sie kein Deutsch?" - derlei Mahnungen musste der Sitzungsleiter bei Grüppchenbildung oft ausrufen. Am Wochenende waren meist etwas mehr als 300 Delegierte anwesend. Bei der Wahl 2017 hatte die AfD 12,4 Prozent in Bayern erreicht, 14 Mandate in Berlin. Die Umfragen lagen zuletzt bei gut zehn Prozent; das ergäbe etwas weniger.
Die friedliche Wahl des Listenführers ist also ungewöhnlich, sie lässt sich aber erklären. Die Landeschefin und Bundestagsabgeordnete Corinna Miazga hatte sich im November wegen einer Brustkrebserkrankung aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und erst kürzlich zurückgemeldet. Sie wollte nur Platz zwei anstreben, die Spitzenkandidatur mit vielen Auftritten kostet Kraft, sie wolle sich nicht "überstrapazieren". Damit lief alles auf Boehringer zu: Er stand 2017 schon auf Platz zwei; als Vorsitzender des Haushaltsausschusses im Bundestag hat er den einflussreichsten Posten der gesamten AfD inne; und er ist keinem Lager zuzurechnen, gilt weder als dezidierter Vertreter des (formal aufgelösten) völkischen "Flügels" noch der moderaten Strömung. Er selbst definierte sich als "Mitte der Partei". Als sein Name intern kursierte, hat sich wohl keiner mehr getraut. "Sicher kein supercharismatischer Typ", sagen Parteifreunde über ihn, "aber unter den Umständen die beste Wahl."
Wer ist Peter Boehringer? Der 52-Jährige steht vor allem für den Gründungsmythos der AfD: die Kritik an der Euro-Rettungspolitik. Obwohl er erst 2015 eingetreten ist, hat er als Publizist und Aktivist lange Zeit das Vorfeld beackert. So war er 2010 Initiator der Kampagne "Holt unser Gold heim" - dabei ging es um die Lagerung von Edelmetallreserven der Bundesbank an Handelsplätzen im Ausland. Vor AfD-Gründung trat er bei mehreren Anti-Euro-Kampagnen auf, publizierte zum Thema Bücher, propagierte online gegen "finanziellen Plansozialismus". Er ist bis heute sehr netzaffin und zählt auf Youtube und Telegram zu den reichweitenstärksten AfD-Politikern. Sein Repertoire umfasst längst auch Themen wie "Massenzuwanderung".
In seiner Ansprache versuchte Boehringer tunlichst, das Image eines drögen Haushaltspolitikers zu zerstreuen. Viele Schlüsselbegriffe für die rechte Parteiseele fielen. Er sei "freiheitlich, konservativ und national denkend", sagte er, dies schließe sich nicht aus. Die aktuelle Politik und die "Altparteien" nannte Boehringer "grüntotalitär", "Multikulti" sei Teil des "gesellschaftlichen Notstands" - Schwarz-Rot-Gold sowie Weiß und Blau, "das ist bunt genug"
Auf Platz zwei trat eben Miazga an. Sie war 2015 bei Gründung des Flügels dort engagiert, zur Vorsitzenden in Bayern ließ sie sich 2019 als "neutrale" Mittlerin wählen. Seitdem hat sie sich vom Flügel-Zirkel abgegrenzt und gilt bei den Nationalisten als Hassfigur. Intern wurde von Rechtsaußen zuletzt massiv gegen Miazga geschossen, ihre Eignung und gar ihre Erkrankung wurden angezweifelt. Einer ihrer Hauptgegner ist Hansjörg Müller, erster Vize im Landesverband. Gegen ihn kam es in Greding zum Duell um Platz zwei. Zuvor beantragte ein Völkischer, dass jeder Bewerber Auskunft über abgeschlossene Ausbildungen geben soll. Ein Manöver mit dem Ziel, dass Miazga auf offener Bühne zugeben musste, durchs Jura-Studium gefallen zu sein.
"Ich bin wieder da", sagte die Landeschefin, mit Tränen kämpfend. Ansonsten wollte sie eindeutig nicht als liberal dastehen: "Wir müssen raus aus der EU und zwar sofort", forderte sie. Eine "Klima-Diktatur" drohe, Deutschland sei seit 2015 "Messermännerland", Frauen hätten auf der Straße Angst. Müller, der zuletzt mit "Querdenkern" auftrat, sagte, es sei "ein totalitärer Staat auf den Trümmern unseres Grundgesetzes" errichtet worden; auf lange Sicht sei von weltweiten Eliten geplant, die Menschen mit Maschinen zu "Cyborgs" zu verschmelzen. Gewählt wurde schließlich Miazga, doch eher knapp in einer Stichwahl. Formal ein Sieg für die Gemäßigten. Allein die Wortwahl - auch in vielen weiteren Reden - zeigt, dass ohne Signale an den rechten Rand keine Mehrheiten möglich sind.
Zunächst setzten sich auf der Liste Abgeordnete durch, keine Neulinge. Zum Beispiel Stephan Protschka auf Platz drei, dahinter folgen Petr Bystron und Martin Sichert, beide frühere Landesvorsitzende.