Süddeutsche Zeitung

Abitur 2022:"Viele können nicht mehr und sind in den Urlaub gefahren"

In der kommenden Woche starten 35 000 bayerische Schüler ins Abitur. Über allem schwebt die Frage: Wie kann man das Abi so gestalten, dass die Schüler nach den Pandemie-Jahren keinen Nachteil haben?

Von Viktoria Spinrad

Sie sei schon ziemlich gereizt, sagt Fabia Klein. In den vergangenen zwei Jahren hat die Nürnberger Abiturientin so ziemlich alle Höhen und Tiefen eines Bildungssystems auf Achterbahnfahrt erlebt. Homeschooling, Wechselunterricht, Quarantäne. Nun steht das Grande Finale der nervenzerreibenden Gymnasialkarriere an. Am kommenden Mittwoch startet die 20-Jährige wie 35 000 weitere in Bayern ins Abitur, mit Deutsch als Auftakt. "Eigentlich hab' ich kaum noch Kraft zum Lernen", sagt sie.

Wie beim Sport spielt auch beim Abitur die Psyche eine entscheidende Rolle, ist die Reifeprüfung eine Nervenprüfung. Man kann hoch greifen und tief fallen, immerhin machen die Prüfungen ein Drittel des gesamten Abschlusses aus. In diesem Jahr hätte jeder Dramaturg besondere Freude am Stoff. Tritt da doch ein Jahrgang an, der die gesamte Oberstufe im Ausnahmezustand verbracht hat. Schulschließungen in der Q10, Wechselunterricht in der Q11, Quarantäne in der Q12. Eine gereizte und verunsicherte Schülerschaft auf dem Sprung in die Reifeprüfung. Kann das was werden?

Spricht man mit Klein, die zugleich auch Sprecherin des bayerischen Landesschülerrats (LSR) ist, dann klingt es, als liefen viele bereits auf Reserve-Akku. "Viele können nicht mehr und sind in den Urlaub gefahren", sagt sie. Sie selber ist zu Hause geblieben, versucht, ihre Kontakte so weit wie möglich einzuschränken, um sich nicht noch vorher zu infizieren. Sie hat Faust gelesen, Woyzeck und den Sandmann, und Erörterungen geübt - klingt alles, als könnte am kommenden Mittwoch gar nicht mehr so viel schiefgehen.

In den Osterferien gab es Angebote zum Üben

Ihr Fokus liegt auf dem 3. Mai, dem Tag des bayernweiten Mathe-Abiturs. Die Schüler müssen Flächeninhalte berechnen können, Logarithmusfunktion verstehen und wissen, was der Binomialkoeffizient ist. Denn im Freistaat ist Mathe verpflichtendes Abiturfach. Was vielen Kopfzerbrechen bereitet. Kleins Mathelehrerin hat deshalb eine Art digitales Osterferien-Büffelcamp eingerichtet. Wer will, kann vormittags Übungsaufgaben lösen und Nachfragen stellen. Viele, sagt Klein, hätten noch Lücken aus dem Homeschooling. Sie selbst hat sich zusätzlich einen digitalen Mathekurs zum Geburtstag schenken lassen. Stoff für die Aufholjagd, "kann sich jetzt auch nicht jeder leisten", moniert Klein.

Auch im Ministerium hat man sich heuer wieder Gedanken gemacht, wie man die Nachteile der vergangenen Jahre ausgleichen kann. Eine Gratwanderung: Fällt der Schnitt signifikant ab, drohen Gerechtigkeitsvergleiche mit den vorherigen Jahrgängen, die sich über weitreichende Erleichterungen freuen konnten. Macht man es zu leicht und fährt das nächste Rekordergebnis ein, monieren Bildungsforscher einen Verfall des Werts des Abiturs.

Entsprechend hat man sich für einen Mittelweg entschieden. Heuer bekommen die Abiturienten zwar nicht zwei Wochen mehr Zeit zum Lernen, wie es Grüne und SPD gerne gesehen hätten - schließlich hatten die Abschlussschüler ja auch zuletzt durchgehend Präsenzunterricht, so das Argument. Wohl aber bekommen die diesjährigen Abiturienten mehr Zeit, obwohl das Argument dafür - das Maskentragen - mittlerweile hinfällig ist. Außerdem wurde hier und da Stoff aus den Lehrplänen gestrichen.

Evolutionsschübe nach Massenaussterben (Biologie), Analyse von Sachtexten (Deutsch), Sinus- und Kosinusfunktionen (Mathe) und die Problematik der individuellen und kollektiven Geschichtserinnerung an die DDR (Geschichte) können sich die Schüler schenken. Sie profitieren außerdem noch von Erleichterungen in der Q11, die sie mit ins Rennen bringen. Der Landesschülerrat um Fabia Klein hätte sich noch mehr Entgegenkommen gewünscht.

"Wir sind alle nicht auf den Kopf gefallen, wir kriegen das schon hin"

Aber da winken selbst die Gymnasiallehrer ab. "Niemand möchte ein Abitur geschenkt bekommen", sagt Michael Schwägerl, Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbands. Er klingt recht optimistisch, wenn es um die Chancen des Abiturjahrgangs geht. Er gehe nicht davon aus, dass es ein schlechter Jahrgang werde, hoffe aber auch, dass nicht schon wieder ein Rekord über den 2,14 vom vergangenen Jahr eingefahren wird. "Es soll so anspruchsvoll sein, dass es ein faires Abitur wird", so Schwägerl.

Hinter diesem steckt nicht zuletzt auch eine ausgeklügelte Logistik. Vor allem heuer, wo manche Schüler geimpft, andere ungeimpft, manche mit Maske und manche ohne antreten werden. Die Schulleiter können Aufteilungen nach Belieben vornehmen. Um teilzunehmen, müssen die Schüler vorher nicht getestet werden. Abiturienten dürfen im April sogar ihre Corona-Quarantäne unterbrechen, sofern sie nicht positiv sind. Infizierte, aber fitte Lehrer dürfen die mündlichen Prüfungen im Mai digital abhalten - ein Abitur im Lockermodus.

Wie es bei ihr an der Nürnberger Peter-Vischer-Schule ablaufen wird, erfährt Fabia Klein am kommenden Montag. In die Anspannung mischt sich nun auch etwas Vorfreude, dass die Zielgerade nun im Blick ist. "Wir sind alle nicht auf den Kopf gefallen, wir kriegen das schon hin", sagt sie. Nur noch einmal die letzten Kräfte sammeln. "Dann können wir uns auf die Schulter klopfen dafür, dass wir es gut überstanden haben."

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