Sieben weiße Männer erzählen uns die Geschichte. Aber solche von der abgehalfterten Sorte. „Wir sind die ganz unten“, sagen sie. „Die Alten, die Lahmen, die Seltsamen“ oder „die Nutzlosen und Vergessenen“ werden sie von den anderen genannt. Und an Triggerwarnungen lassen sie es nicht fehlen: „Diese Geschichte ist nicht jedermanns Sache, und lustig wird es auch nicht“, orakelt der Chor der traurigen Gestalten. Und während er noch mit sich ringt, ob man besser mit Iphigenies kornblumenblauem Köfferchen oder einem anderen Detail beginnen sollte, gibt er seinen Zuhörern und -schauern mehrmals Gelegenheit auszusteigen.
Bei der öffentlichen Generalprobe im Stadttheater Ingolstadt bleiben alle. Wenn Jochen Schölchs deutschsprachige Erstaufführung von „Haus ohne Ruhe“ am heutigen Mittwoch die 39. Bayerischen Theatertage eröffnet, wird es vermutlich nicht anders sein. Denn gegen das, was die britische Dramatikerin Zinnie Harris in ihrer Trilogie frei nach Aischylos’ „Orestie“ blutig vor uns ausbreitet, dürften die meisten bereits innerlich gewappnet sein: In Teil eins des antiken Originals opfert König Agamemnon seine Tochter Iphigenie, zieht in den Krieg um Troja, kommt nach zehn Jahren wieder – mit semi-glaubwürdiger Zerknirschung und Beuteweib im Gepäck – und wird vom Liebhaber seiner Ehefrau Klytämnestra getötet. Im Mittelteil rächen die verbliebenen Kinder Elektra und Orest diesen Mord. Und im Finale werden sie von den Rachegöttinnen, den Erinnyen, verfolgt.
Harris bleibt grob dabei, rückt aber die Frauen ins Zentrum, die sie zu Täterinnen macht. Aber sie nimmt auch die Traumata ernst, die die Mütter an die Töchter weitergeben. So ertränkt Klytämnestra ihre Trauer in Alkohol und führt anders als bei Aischylos selbst die Klinge gegen ihren Mann. Die kleine Elektra wird Zeugin des Mordes und ist in Teil zwei, der hier „Orests Fluch“ heißt, nicht die Anstifterin, sondern eine liebende Tochter, die spät die schwere narzisstische Störung ihrer Mutter erkennt. Von den Männern alleingelassen, die nach wie vor ihre Gefühle regieren, wüten die Frauen gegeneinander.
Das am stärksten modifizierte Ende, das teilweise in einer psychiatrischen Klinik spielt, rückt den Götter- und Geisterglauben, der dieses „Haus ohne Ruhe“ beherrscht, in die Nähe des Wahns. In der Verschränkung der Geschichte von Elektra mit der einer Psychiaterin, die sich mit halbwegs vergleichbaren Schuldgefühlen herumschlägt, bekommt das Well-made Play mit Tendenz zur Auserklärung endgültig Schlagseite gen Küchenpsychologie respektive Kalenderspruch-Weisheit.
Jochen Schölchs wie immer schlanke, ganz auf die Schauspieler konzentrierte Regie hält da leider nur zaghaft dagegen. Was ihm gelingt, ist ein über fünfeinhalb Stunden (inklusive zwei Pausen) jederzeit nachvollziehbares Psychogramm einer dysfunktionalen Familie, der von einem patriarchalen System grausam die Luft abgeschnürt wird. Und Amélie Hug als kindlich strahlende Iphigenie, Sarah Schulze-Tenberge als in allen emotionalen Farben schillernde Elektra und Teresa Trauth als Klytämnestra bilden die starke weibliche Achse, um die sich die Tragödie dreht.
Auch wenn Trauth auf den Gipfeln ihrer Wut zuweilen recht plakativ agiert, wobei sie Harris’ Hang zu Flüchen und Erkenntnissen wie „Du bist ein Mann, du brauchst ein Fickloch“ nach Kräften unterstützt. Und auch wenn Stück wie Inszenierung um Verständnis für Frauenschicksale wie ihres werben, ist es schwer, für eine Sympathie aufzubringen, die einer Konkurrentin die Zunge ausbeißt.

Auf Fabian Lüdickes Bühne dient ein weißes Podest als zentraler Platz, Ehebett und übergroßer Tisch. Für weniger intime Szenen fahren einzelne Palastwände herunter. Im letzten Teil veranschaulicht ein enger Guckkasten die bedrängte Psyche. Wenig lenkt darin von den Akteuren ab, die meist psychologisch- bis magisch-realistisch spielen. Sogar aus dem Chor, den Alexander Weise wie für eine Ulrich-Rasche-Inszenierung orchestriert hat, treten immer wieder einzelne heraus und erklären sich. Nur für die Morde findet Schölch semi-abstrakte Darstellungs-Formen; und die Geister, die Elektra verfolgen, manifestieren sich als leuchtende, hologrammartige Schatten.
Auch wenn der Abend über den ewig aktuellen Kreislauf von Rache und Vergeltung weitere Straffungen vertragen hätte: Langweilig wird diese Eigenproduktion des Stadttheaters Ingolstadt nie. Und auch das weitere Programm der Theatertage verspricht viel Abwechslung: Ein bunter Strauß aus 27 Inszenierungen zwischen Musiktheater und Krimikomödie, Performances und Kindertheaterstücken, „Queer Night“ und „Tagebuch der Anne Frank“, Shakespeare, Oskar Maria Graf und Sivan Ben Yishai macht Ingolstadt 19 Tage lang zum Zentrum der bayerischen Theaterwelt.
Kaum etwas Sehens- und Erlebenswertes, das Künstlerkollegen von Hof bis Kempten erarbeitet haben, fehlt. Fast alle Münchner Bühnen sind dabei, auch viele brennende Geschichten von Ausgrenzung und Verfolgung – und weil sich das Festival zeitlich mit dem Beginn der Fußball-Europameisterschaft überschneidet, ist nicht nur eine Live-Übertragung des Eröffnungsspiels inklusive, sondern auch eine Portion Optimismus: „Wir im Finale“ jubelt ein Bewegungsprojekt der Theaterakademie August Everding, nicht ohne dabei einen Seitenblick auf den bröckelnden Teamgeist im Land zu werfen. Und analog zu den Geistern, die Elektra nicht loswurde, treiben sich im Gewölbe des Herzogkastens historische Stadtgespenster herum. Wer hier nicht fündig wird, dem ist nicht zu helfen.
„Haus ohne Ruhe“, Premiere am 29. Mai, 17 Uhr, Stadttheater Ingolstadt, Bayerische Theatertage: 29. Mai bis 16. Juni, www.bayerische-theatertage.de