Bayerische Geschichte:Chronist und Romantiker

Hirseernte, 1911

Josef Schlicht zeichnete ein Idealbild des Bauernstandes, an dem jedoch die Kräfte des Fortschritts zerrten. Hier: Bauern bei der Hirseernte 1911.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Vor hundert Jahren starb Josef Schlicht, Pfarrer und Erforscher der bayerischen Alltagswelt. In seinen Werken verklärte er das Leben der Bauern und klammerte alles Widersprüchliche aus

Von Hans Kratzer

"Es reicht nicht, dass man geschwind einmal durch ein paar Dörfer fährt und dann sagt: Jetzt kenn ich Bayern. Da muss man sich schon einige Zeit nehmen, muss wache Ohren und gesunde Augen haben, und ein verständiges Herz ..." Dieser etwas altertümlich klingende Gedanke, den der niederbayerische Geistliche Josef Schlicht (1832-1917) einmal in einem Brief festgehalten hat, umschreibt in aller Kürze dessen literarisches Wirken und Schaffen, das bis heute Interesse weckt. Schlicht, der vor genau hundert Jahren gestorben ist, zählt zu den großen Dokumentaren der Volkskultur des 19. Jahrhunderts. Sein Werk gilt als ein Klassiker der Volkskunde. Wer sich mit dem vorindustriellen Bayern beschäftigt, kommt an Schlichts Schriften nicht vorbei. Allerdings sollten sie kritisch gelesen werden, wurden sie doch aus einem idealistischen Blick heraus verfasst. Schlichts Kosmos wirkt heute wie aus der Zeit gefallen.

Schlicht wurde am 18. März 1832 in eine kinderreiche Hallertauer Kleinbauernfamilie hineingeboren. Nach der Priesterweihe folgten lange Wanderjahre, bis ihm 1871 in Steinach bei Straubing das Schlossbenefizium übertragen wurde. Dort wirkte er bis zu seinem Tod am 18. April 1917. Das waren immerhin 46 Jahre, was nach beruflichem Stillstand aussieht. Ihn hat das allerdings wenig bekümmert. Die bescheidene Stellung als Schlossbenefiziat sicherte zwar nur knapp den Lebensunterhalt, sie verschaffte Schlicht aber jenes Maß an Muße und Freiheit, das er für seine wirkliche Leidenschaft, die volkskundliche Feldforschung, benötigte. Meistens waren seine geistlichen Aufgaben nach der Morgenmesse in der Kapelle im Schloss Steinach erledigt, was einmal sogar einen Gerichtsstreit mit dem Schlossherrn provozierte. Der hätte den Viel-Zeit-Besitzer Schlicht nämlich gerne öfter für seine Zwecke eingespannt. Schlicht nützte seine Ressourcen aber lieber für seine Forschungen.

Er besaß ein großes Wissen über Literatur und Philologie, und außer den klassischen Sprachen beherrschte er auch Englisch, Französisch und Italienisch. Selbst dem Milieu der kleinen Leute entstammend, schaute er mit Vorliebe dem Volk aufs Maul. Seine erste Veröffentlichung im Straubinger Tagblatt (1868) war eine genaue Darstellung der Erntearbeiten im Gäuboden inklusive des Straubinger "Sklavenmarkts", auf dem Erntekräfte angeworben wurden. Die schwere Arbeit erstreckte sich damals von vier Uhr morgens bis zum Gebetläuten um acht Uhr abends.

Anno 1875 wurden Schlichts früheste Zeitungs- und Zeitschriftentexte erstmals in einem Buch gebündelt, das den Titel "Bayerisch Land und Bayerisch Volk" trägt und ein Dauerbrenner ist. Zuletzt wurde es 2004 im Morsak Verlag aufgelegt. Schlicht erweist sich darin als ein begabter und exakter Erzähler. Dementsprechend erhielt er viele Ehrungen, und auch sein Wirken als Seelsorger wurde durch die für einen Benefiziaten sehr seltene Ernennung zum Bischöflich Geistlichen Rat gewürdigt.

So feinsinnig er freilich das Volksleben dokumentierte, so sehr fehlte ihm die Vision für ein großes zeitloses Werk. Seine Geschichten zeichnen sich durch einen anschaulichen, aber altmodischen und adjektivlastigen Schreibstil aus, der vor allem das Landvolk erfreuen sollte, dem aber das Lesen eher fern lag. "Ich wollte nichts anderes, als den Bauern allein eine Freude bereiten", schrieb er selber. Dabei hätte es für eine solche Selbstbescheidung keinen Grund gegeben. Immerhin unternahm er gut 20 ausgedehnte Reisen durch Europa, die seinen Blick enorm weiteten.

Doch statt das bayerische Volksleben zu diesen Reiseerfahrungen in Beziehung zu stellen, schilderte er überwiegend die statische Welt der Groß- und Mittelbauern, die er noch dazu idealisiert hat. Die auch damals reichlich vorhandenen Probleme und sozialen Spannungen des Bauernstandes klammerte er aus, die unteren sozialen Dorfschichten erwähnte er kaum.

Indem er lediglich auf eine bäuerliche Idylle abzielte, hat Schlicht sein Werk zum Teil entwertet. Die moderne Forschung ist sich einig, dass dem "scharfen Beobachter Schlicht" die widrigen Zeitumstände und die aufkommende Industrialisierung und Technisierung nicht verborgen blieb. Und doch gaukle er das Traumbild einer Wirklichkeit vor, in der nur das Schöne sichtbar wird und die es so gar nicht gegeben habe.

Schlicht wurde sogar schon unterstellt, er habe mit seiner Bauerndarstellung nationalsozialistische Ideen vorbereitet. Der Schlicht-Biograf Johann Wax, der diese These erwähnt, schränkt aber zugleich ein, Schlichts Schilderung "zeigte vermutlich eine für die Nazis zu starke religiöse Komponente, so dass sie nicht in dem Maße für ihre politischen Zwecke verwertbar war".

Einerseits blendete Schlicht also Kriege, Industrialisierung sowie die Auflösung sozialer und religiöser Strukturen aus. Andererseits bewahrte er als glänzender Unterhalter das Brauchtum und die Volksfrömmigkeit vor den Umwälzungen des 20. Jahrhunderts vor dem Vergessen. Manche Kritiker hatten sein Werk schon früh gering geschätzt ("Opium für das Volk"), er aber rechtfertigte es als Dienst an jenen Menschen, die ein hartes Leben zu meistern hatten. Viele seiner Schilderungen werden in Erinnerung bleiben, auch jene Auflistung einer Rauschtafel, die 26 unterschiedliche Räusche umfasst, sowie jene Sentenz, die er unmittelbar vor seinem Tod von sich gab: "Bua, jetzt san d'Wagscheitl brocha!"

Das Andenken an den Benefiziaten, Volkskundler und Dichter Josef Schlicht wird vor allem in der Gemeinde Steinach weiter hoch gehalten. Dort ist ihm ein Straßenname gewidmet, und auch die Grundschule Steinach trägt seinen Namen. Sein Grab ist auf dem Kirchenfriedhof in Steinach zu finden, auf einer bronzenen Gedenktafel steht der Spruch: "Wie keiner kannte, liebte und schilderte er das altbayerische Bauernland." Der Landkreis Straubing-Bogen ehrt seit 1977 Persönlichkeiten, die sich besondere Verdienste um Heimat, Kultur und Brauchtum erworben haben, mit der Verleihung der Josef-Schlicht-Medaille.

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