Wer dieser Tage eine Bergwanderung in den Allgäuer Alpen unternimmt, kann mit ein wenig Glück Bartgeier am Himmel kreisen sehen. Die Greifvögel, die mit einer Flügelspannweite von beinahe drei Metern zu den mächtigsten Vögeln überhaupt zählen, kommen aus dem österreichischen Nationalpark Hohe Tauern herüber und suchen die schmelzenden Schneefelder nach Gämsen und anderen Wildtieren ab, die im Winter unter Lawinen umgekommen sind. Denn die Kadaver sind Leckerbissen für die Aasfresser. "Dieser Tage sind sogar erstmals zwei Bartgeier gemeinsam über dem Allgäu beobachtet worden", berichtet der Biologe und Bartgeier-Spezialist Toni Wegscheider, der für den Landesbund für Vogelschutz (LBV) ein Wiederansiedlungsprojekt vorbereitet. "Es könnte sogar ein Pärchen gewesen sein."
Der Bartgeier oder Gypaetus barbatus, wie sein wissenschaftlicher Name lautet, hat seinen Namen von den markanten, borstenartigen Federn, die wie ein Bart nach unten von seinem hakenförmigen Schnabel abstehen. Die mächtigen Greifvögel ernähren sich ausschließlich von Aas und Knochen. Jahrhunderte lang standen die auffälligen Tiere mit der orange-rötlich gefiederten Brust und dem hellen Kopf freilich in dem Ruf, auf alle möglichen Nutztiere und sogar Kleinkinder aus zu sein. Im Volksmund werden sie deshalb auch Lämmergeier genannt. Die eigentlich völlig harmlosen Tiere wurden deshalb erbarmungslos gejagt. Anfang des 20. Jahrhunderts waren sie ausgerottet in den Alpen. Erst in den Achtzigerjahren wagte man sich an eine Wiederansiedlung. Damals züchtete man im Innsbrucker Alpenzoo wieder Bartgeier heran. Die ersten wurden 1986 im Nationalpark Hohe Tauern ausgewildert. In den Jahren darauf folgten Freilassungen in Südtirol und im Mont-Blanc-Gebiet. Alpenweit gibt es insgesamt aber nur etwa 220 Exemplare.
Von den Hohen Tauern aus steuern inzwischen jedes Frühjahr Bartgeier das Allgäu an. 2019 hat sich im nahen Tiroler Lechtal ein Pärchen niedergelassen und gebrütet. Beim LBV sind sie überzeugt, dass es einzig eine Frage der Zeit ist, bis Bartgeier wieder in den bayerischen Alpen heimisch werden. Um die Rückkehr beschleunigen, wollen sie von 2021 an immer wieder Jungtiere auswildern - aber nicht im Allgäu, sondern am anderen Ende der bayerischen Alpen im Nationalpark Berchtesgaden.