Süddeutsche Zeitung

Bad Reichenhall:Der fast vergessene Amoklauf

An Allerheiligen vor 20 Jahren erschoss ein 16-Jähriger in Bad Reichenhall vier Menschen und dann sich selbst. Der Täter interessierte sich für die Neonazi-Szene - durchleuchtet wurde er trotzdem nicht.

Idyllisch vor der Bergkulisse zeigen Bilder das Wohnhaus der Familie, Blumen zieren den Balkon. Die Eltern sind auf den Friedhof ans Grab seiner Großmutter gegangen. Es ist Allerheiligen, der Tag der Toten, als der 16-jährige Martin P. mit Waffen seines Vaters im oberbayerischen Kurort Bad Reichenhall ein Massaker anrichtet.

Am 1. November 1999 erschießt er seine 18 Jahre alte Schwester und feuert aus der elterlichen Wohnung wahllos auf Passanten. Ein Fußgänger, 54, und ein Nachbarehepaar, 59 und 60, sterben. Am Ende jagt er sich selbst eine Kugel in den Kopf. Die Bilanz: fünf Tote und fünf Schwerverletzte, unter ihnen der Schauspieler Günter Lamprecht und seine Lebensgefährtin, die zufällig vor dem Haus unterwegs waren.

Auch 20 Jahre später ist unklar, was sich in der Wohnung zwischen den Geschwistern abspielte, was Martin P. trieb, den Waffenschrank des Vaters aufzubrechen und zu töten. "Es war das erste Mal, dass das Phänomen bei uns auftrat", sagt der heutige Münchner Polizeipräsident Hubertus Andrä, der damals den Einsatz vor Ort leitete. "Natürlich habe ich diesen Tag noch im Kopf", sagt er. Zuerst habe man geglaubt, der Vater schieße - weil er eine gewisse Nähe zu Waffen gehabt habe. Bis er mit seiner Frau an der polizeilichen Absperrung auftaucht. "Da war klar, dass möglicherweise der Sohn der Schütze ist."

Dramatische Szenen spielten sich damals vor dem Wohnhaus des 16-Jährigen ab. Stundenlang konnten die Verletzten und Toten nicht von der Straße geborgen werden, weil Martin P. weiter um sich schoss. Erst als der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) - er war zufällig in der Nähe - seine gepanzerte Dienstlimousine als Schutzschild für die Helfer schickte, wurden die Opfer aus dem Kugelhagel geholt. Für Fernseh-Kommissar Lamprecht wurde die Zeit bis zur Rettung zur Ewigkeit. Noch Jahre später berichtete er von schlaflosen Nächten, in denen er eine "Hinrichtung" erlebe.

Bei vielen ist die Tat weniger in Erinnerung geblieben als spätere Amokläufe, etwa der in Erfurt 2002 mit 17 Toten und in Winnenden 2009 mit 16 Toten. Die geringere Zahl der Opfer dürfte nur ein Grund sein. Vor Erfurt, sagt der ehemalige Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, Rudolf Egg, sei man eher von allein in der Persönlichkeit des Täters begründeten Einzeltaten ausgegangen. "Man hat sie als etwas Isoliertes angesehen."

Nach Erfurt kam Egg zufolge verstärkt die Frage nach gesellschaftlichen Hintergründen auf. Ein Jahr zuvor hatten die Terroranschläge von New York die Menschen weltweit erschüttert. Und man erinnerte sich an das Massaker 1999 an der Columbine High School im US-Bundesstaat Colorado, als zwei Schüler zwölf Mitschüler, einen Lehrer und sich selbst erschossen. "Bekommen wir jetzt amerikanische Verhältnisse?" Nicht zuletzt habe Erfurt mit dazu beigetragen, sich in Studien intensiver mit dem Amok-Phänomen zu befassen.

Seither gab es eine Reihe von Änderungen. Nach der Tat von Winnenden wurden etwa Verstöße gegen Aufbewahrungsvorschriften zur Straftat. Terrorwarnungen führten zu weiteren Verschärfungen des Waffenrechts. Notfallpläne wurden entwickelt, Krisenteams stehen nun bereit. Eine positive Lehre sei, dass man mehr auf am Rand stehende Menschen achte, sagt Egg. "Die Störer kann man nicht übersehen. Es sind aber oft diese Stummen, eher Depressiven und Suizidalen, die dann völlig unerwartet solche Taten begehen."

Ähnlich wurde Martin P. beschrieben: als unauffälliger Einzelgänger. Den Ermittlungen zufolge hatte er sich für die Neonazi-Szene zu interessieren begonnen. In seinem Zimmer hing ein Hakenkreuz, er hörte Musik mit gewaltverherrlichendem Inhalt, sah Gewaltvideos. Politische Motive schieden nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft aus. Dennoch sagt Egg: "Sympathie mit dem Naziregime kann einem Täter subjektiv Stärke verleihen." Einem schwachen Menschen könne es das Gefühl verschaffen: "Ich gehöre einer ganz großartigen Bewegung an."

Insgesamt 50 Schüsse feuerte der Berufsschüler aus den Magazinen von vier Waffen ab. Seiner gerade volljährigen Schwester schoss er fünf Mal in Kopf und Brust - auch das wirkte fast wie eine Hinrichtung. Die Ermittler kamen damals zu dem Schluss: "Das Motiv liegt in der Persönlichkeit des Täters." Anders als etwa nach dem Amoklauf 2016 am Olympia-Einkaufszentrum in München, nach dem der Täter posthum bis ins Detail psychologisch durchleuchtet wurde, klappten in Bad Reichenhall die Aktendeckel zu.

Ein Mahnmal zur Erinnerung an die Opfer wie an anderen Schauplätzen ähnlicher Taten gibt es in Bad Reichenhall nicht. Auch vom Jahrestag wird man im Ort wenig merken: Die Stadt plant kein Gedenken.

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