Süddeutsche Zeitung

Deutscher Kita-Preis 2020:"Jeder Mensch hat seine Stärken"

Lesezeit: 2 min

Ein Bamberger Bündnis setzt sich gegen 1500 Bewerber durch und gewinnt den Deutschen Kita-Preis 2020. Ein Gespräch mit Kita-Leiterin Nadja Heinbuch über Integration und Kommunikation.

Interview von Viktoria Spinrad, Bamberg

"Viertel für sozial Schwache", "Brennpunkt", "Glasscherbenviertel": der Bamberger Ortsteil Gereuth genießt nicht den besten Ruf. 90 Prozent sind Sozialwohnungen, dazu kommen viele Geflüchtete. Es gibt aber auch Lesepatenschaften, Kinderturnen und Kinderkonferenzen, dank der Lokalinitiative "Aus der Gereuth für die Gereuth". Diese hat nun den Preis für das deutschlandweit beste lokale Bündnis für frühe Bildung gewonnen. Die Kita-Leiterin Nadja Heinbuch spricht über die Kunst, einen Ortsteil zu einer Einheit zu formen.

SZ: Mit sozialer Durchmischung ist es im Ortsteil nicht weit her . Ist die Bewohnerstruktur des Stadtteils eher Vor- oder Nachteil, wenn es um Partizipation geht?

Nadja Heinbuch: Beides. Es gibt viele kulturelle Vorurteile, die man ausräumen muss. Auf der anderen Seite kann eine Person viele andere aus "ihrer" Gruppe mitreißen.

Wie sieht das dann aus?

Zum Beispiel gibt es hier eine Mutter aus Syrien. Am Anfang hat sie sich nicht getraut, alleine zur Mutter-Kind-Gruppe zu gehen. Also haben wir sie von der Kita aus mitgenommen. Sie war so begeistert, dass sie mittlerweile mehrere andere geflüchtete Familien überzeugt hat, mitzukommen. Egal ob Wandertag oder Kinderturnen - mittlerweile sind bei vielen Veranstaltungen auch mehrere Geflüchtete dabei.

Wie ist das Netzwerk entstanden? Gab es einen Masterplan?

Nein, das ist vor allem aus sich heraus gewachsen. Kita, Sozialarbeiter, Tafel, Grundschule - früher hat jeder seins gemacht. Doch mit der Zeit sind wir immer mehr zusammengewachsen. Dazu kam, dass es uns nicht sinnvoll erschien, wenn wir uns allein um alles kümmern. So haben wir angefangen, Bewohner, Eltern und Kinder mit in die Verantwortung zu nehmen. Dann steht man auch anders dahinter.

Wie schaffen Sie das? Viele empfinden Kuchenbacken ja eher als Strafe.

Man muss die Leute bei ihren Stärken packen. Wenn ich sage: "Wir bräuchten noch fünf Kuchen", interessiert das keinen. Wenn ich aber sage: Daniela, du backst doch so gerne, wie wär's, wenn du einen Kuchen mitbringst, dann macht sie das auch.

Also die Leute gezielt ansprechen.

Genau. Gerade Menschen in widrigen Lebensumständen sind oft voller Selbstzweifel. Aber jeder hat seine Stärken. Wenn der eine mit Kindern toll Experimente machen kann, dann spielt es auch keine Rolle mehr, ob er oder sie perfekt Deutsch kann. Man muss den Menschen vermitteln, dass sie gebraucht werden.

Und wenn einer mal nicht will?

Auch das gibt es. Einmal ist zum Beispiel ein Stadtteilfest geplatzt, weil es dem Kneipenwirt doch zu viel war. Dann ist das eben so. Man darf auch nicht zu viel wollen.

Wie sehen Sie die Rolle der Politik?

Wir haben keinen Euro und keine Stunde zusätzlich zur Verfügung, was schade ist. Wir könnten definitiv mehr Unterstützung gebrauchen. Gleichzeitig dürfen solche Initiativen aber auch nicht zu politisch werden. Wenn die Bewohner den Eindruck haben, dass da etwas von oben kommt, schreckt es sie eher ab. Man muss auf Augenhöhe mit den Menschen bleiben, auch ihre Perspektive sehen.

Haben Sie ein Beispiel?

Eine Zeit lang hat ein syrischer Vater seine Tochter jeden Tag an der Eingangstür zur Kita hereingeschoben und ist wieder gegangen. Alle haben sich gewundert, was das soll. Hat er kein Interesse, die Kita von innen zu sehen? Ist er sich zu schade? Also fragte ich ihn. Es stellte sich heraus: Er dachte, er dürfte gar nicht ins Haus. Hätte ich ihn nicht angesprochen, hätten wir uns noch ewig gefragt, was mit diesem Mann los ist. Dabei wollte er nur höflich sein.

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Quelle:
SZ vom 25.06.2020
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