Süddeutsche Zeitung

Jagd:Bruno, der Bärenlümmel aus dem Trentino: Wild, frei, tot

Zehn Jahre ist es her, dass Bruno den Freistaat in aller Welt blamierte. Wochenlang spazierte er durchs Oberland, unaufhaltbar. Bis zu jener finsteren Nacht auf der Kümpflalm.

Von Sebastian Beck und Christian Sebald

Es ist in der Nacht auf Samstag, 20. Mai 2006, als er seine Tatze erstmals auf bayerischen Boden setzt. Ganz hinten im Graswangtal, wo sich einst König Ludwig II. auf Schloss Linderhof durch seine künstliche Venusgrotte rudern ließ. So einsam ist es im Ammergebirge zwischen Notkarspitze und Kienjoch, dass die Landschaft mehr an Schweden denn an Deutschland erinnert.

Ein kommender Weltstar betritt hier im Dunkeln und bei Regen seine Bühne. Behördenname JJ1, Kosename Bruno. Zwei Jahre alt, kräftig von Wuchs, aber leider schwach vom Charakter her und mit etlichen Einträgen in seinem österreichischen Führungszeugnis. Wenn er grantig ist und sich aufrichtet, misst er 1,60 Meter, dabei ist er gute hundert Kilo schwer, der Bursch. Eine einzige Watschn von ihm reißt selbst das stärkste Mannsbild weg. Sein Herz wiegt 830 Gramm, aber es sollen noch fünf wilde Wochen vergehen, bis auch dieses Detail über ihn in den Zeitungen steht, und Doris, die Sennerin von der Kümpflalm, einen seiner Jäger rühmen wird: "Der hat echt super geschossen."

Bruno hat Hunger in dieser Regennacht im Graswangtal, also besorgt er sich was zum Fressen: Er reißt drei Schafe. Am Morgen entdeckt ein Jäger die blutigen Kadaver, doch es dauert noch einen Tag, bis Bruno nach einer weiteren Schafmahlzeit eine verräterische Spur im Schlamm hinterlässt. Dann ist klar: Der Bär ist da - erstmals nach 171 Jahren. Den letzten hatte Forstaktuar Ferdinand Klein am 24. Oktober 1835 um zehn Uhr morgens in Ruhpolding erlegt.

Bruno hat einen mächtigen Freund in Bayern: CSU-Umweltminister Werner Schnappauf. "Der Braunbär ist in Bayern willkommen!", ruft Schnappauf auf einer Naturschutztagung im Allgäu zwei Tage vor dessen Grenzübertritt. "Das Ammergebirge ist ein geradezu idealer Lebensraum für ihn." Bruno streift zu dem Zeitpunkt noch 20 Kilometer entfernt durchs Tiroler Gebirge. Was Schnappauf da aber noch nicht weiß, steht später im Bericht der österreichischen Bären-Eingreiftruppe. JJ1 hat auf seinem Weg aus seiner Heimat in den Dolomiten nach Bayern ziemlich viel Mist gebaut. Experten ist Bruno nicht geheuer. Er bricht in Vorarlberg in Ställe ein und schleicht sich an Siedlungen heran. Schon am 11. Mai heißt es: "Fang, Besendern und Vergrämen wird mit Landesrat Schwärzler vorbesprochen."

Aber für Bayern ist der Bär erst einmal ein Geschenk. Denn Bayern ist nun der wichtigste Freistaat der Welt: In München wird am 9. Juni die Fußballweltmeisterschaft eröffnet. Im September kommt der Papst zu Besuch, der natürlich auch ein Bayer ist. Da darf Bruno beim Sommermärchen gerne mitspielen: "Der Papst hat mit der Aufnahme des Bären in sein Wappen mit hoher Autorität das Heimatrecht des Bären in Bayern neu bekräftigt", verlautet aus dem Erzbischöflichen Ordinariat in München.

In Grainau, gleich hinter Garmisch-Partenkirchen, knackt Bruno bald nach seiner offiziellen Begrüßung einen Geflügelstall. Direkt neben einem Wohnhaus, in dem ein älteres Ehepaar wohnt - und zum Glück nicht nachgesehen hat.

"Wir werden den Bären zum Abschuss freigeben"

Zwar hat Bruno noch nie einen Menschen angegriffen, und er wird es auch bis zum Showdown auf der Kümpflalm nicht tun. Doch Schnappauf muss am Montag, 22. Mai, seine Pressekonferenz in München um eine halbe Stunde verschieben, weil die Überschrift jetzt plötzlich ganz anders lautet. Statt "Willkommen in Bayern" heißt es jetzt "Schleich dich". Für Schnappaufs Berater ist klar: Das Risiko ist zu hoch, der Bruno kommt den Menschen zu nahe. Er muss weg, und zwar so schnell wie möglich. "Wir werden den Bären zum Abschuss freigeben", sagt Schnappauf, der vom Experten-Votum kalt erwischt wird.

Das aber kommt ganz schlecht an, vor allem bei den vielen Bärenfreunden im Internet, die Bären zwar sehr süß finden, sich aber sonst eher weniger gut auskennen. Schnappauf entscheidet sich daher für einen Kompromiss, auch wenn Experten den für unmöglich halten: Bruno soll eingefangen werden.

Nun beginnt der bayerische Offroad-Movie in den Bergen. Ein Bär auf der Flucht vor der ganzen Welt. Erst heften sich WWF-Leute mit riesigen metallenen Röhrenfallen auf Brunos Fährte. Dann liegen in Tirol Jäger mit Betäubungsgewehren auf der Lauer. Tierschützer wollen JJ1 mit einem Stück Aas anlocken, das sie durch die Wälder ziehen.

Bruno narrt alle. Mal taucht er im Rofangebirge auf, dann ist er im Inntal unterwegs. Anderntags spaziert er am Achensee über eine Straße. In Mittenwald reißt er drei Schafe, die nur hundert Meter von einer Pension entfernt auf der Weide grasen. Am Sylvensteinspeicher streift er das Auto von Jäger Oswald Pockstaller: "Es hat einen ganz schönen Rumpler getan", sagt der. In Kochel sucht Bruno einen Imker heim, verspeist das Meerschweinchen Trixi und den Hasen Hoppel. Wenig später spaziert er durch den nächtlichen Ort, begutachtet die Polizeistation, die allerdings geschlossen ist. Am Brauneck steht er der Wirtin Ursula Singhammer gegenüber: Sie bellt wie ein Hund, er zieht ab.

Aus Bruno ist der Che Guevara der Berge geworden, ein Lümmel aus dem Trentino, ein typischer Halbstarker, ein Sonderling, wie es in Zeitungen heißt - und endlich der Problembär, der Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber zu einer großen Rede inspiriert: "Natürlich freuen wir uns, das ist gar keine Frage, freuen wir uns . . . und die Reaktion war völlig richtig . . . einen sich normal verhaltenden Bär in Bayern zu haben . . . äh ja, das ist gar nicht zum Lachen. (. . .) Nun haben wir . . . einen normal verhaltenden Bär, lebt im Wald, geht niemals raus und reißt vielleicht ein bis zwei Schafe im Jahr. Wir haben dann einen Unterschied zwischen dem normal sich verhaltenden Bär, dem Schadbär und dem Problembär. Und es ist ganz klar, dass dieser Bär ein Problembär ist, und, äh, es ist im Übrigen auch im Grunde genommen durchaus, äh, ein gewisses Glück gewesen, der hat um ein Uhr nachts praktisch, äh, diese Hühner gerissen."

Schnappauf lässt fünf Bärenjäger aus Finnland einfliegen. Die Männer und ihre Elchhunde sind Profis. Sie haben schon viele Bären zur Strecke gebracht, die den Menschen zu nahe gekommen sind. Doch gegen Bruno haben sie keine Chance. Zwar legen sie bis zu 20-stündige Gewaltmärsche hin. Und ihre Hunde kommen dem Bären bisweilen sehr nahe. Doch im letzten Moment entwischt er immer wieder. Nach zwei Wochen geben die Finnen auf. Schnappauf, der Bärenbegrüßer, muss Bruno endgültig zum Abschuss freigeben.

Der Deutsche Tierschutzbund wird später in Österreich 55-Cent-Briefmarken drucken lassen. Darauf steht: "Braunbär Bruno *2004 in Italien + 26. Juni 2006 in Bayern - In unseren Herzen lebst Du weiter". Das Ende: In der Nacht zum 26. Juni steigen drei Jäger zur Kümpflalm an der Rotwand auf und legen sich auf die Lauer. Sie alle sind erfahrene Schützen. Um 4.50 Uhr krachen drei Schüsse. Zwei treffen Bruno. Laut Obduktionsbericht zerfetzen sie seine Lunge und Leber, der Bär ist sofort tot. Und die Doris sagt: "Der hat echt super geschossen."

Eine Wutwelle brandet heran. Schnappauf erhält Drohbriefe, in einem steht: "Du hast den Bären getötet. Dafür musst du büßen. Ich hasse dich, du bist der letzte Dreck." Schliersee ist jetzt die Bärenmördergemeinde. Der Miesbacher Landrat Norbert Kerkel sagt: "Ich habe das Gefühl, die Leute sind völlig durchgedreht." Aus Italien meldet sich Umweltminister Alfonso Pecoraro Scanio: Er fordert den Kadaver zurück, weil der italienisches Staatseigentum sei. Vor dem WM-Halbfinale Deutschland gegen Italien titelt die Süddeutsche Zeitung: "Rache für Bär Bruno!" Deutschland verliert 0:2.

Bruno steht im Museum, die Schützen schweigen beharrlich

Epilog, 2016. Wer hat ihn erschossen? Das ist ungefähr so geheim wie die Handynummer des Papstes. Jäger geben sonst gerne damit an, was sie zur Strecke bringen, doch bei Bruno ist das anders. Und trotzdem: Wer sich in der Miesbacher Gegend umhört, der bekommt drei Namen zugeraunt. Man würde gerne mit diesen Männern sprechen. Wenigstens mit einem von ihnen. Darüber, wie das damals auf der Alm war. Diskret und anonym. Doch der eine lässt über einen Mittelsmann ausrichten, dass er auf keinen Fall reden werde. Beim anderen geht die Frau ans Telefon und wiederholt stoisch: "Ich weiß nicht, wann er erreichbar ist." Der Dritte schreit in den Hörer: Nein, er sei keiner der Schützen. Er hängt ein.

Schnappauf hat sich seit Langem aus der Politik zurückgezogen. 2007 wechselte er als Hauptgeschäftsführer zum Bundesverband der Deutschen Industrie. Heute arbeitet der 62-jährige Oberfranke als Anwalt in Berlin. Bayern hat aus der Tragikomödie gelernt. Der Freistaat leistet sich ein ausgeklügeltes Wildtiermanagement für Bären, Wölfe und Luchse. Eins ist aber klar: Würde heute wieder so ein Bär wie Bruno auftauchen, er würde wahrscheinlich nicht mehr begrüßt, sondern noch schneller abgeschossen als Bruno.

Von ihm sind ein paar Kilo Präparate übrig geblieben. Und die Legende: Wie das Wilde, Gefährliche, Unberechenbare in die Zivilisation einbricht. Wie sich Bayern unsterblich in aller Welt blamiert hat. Wer Bruno - oder besser gesagt: sein Fell - heute sehen will, der muss nach München in das Museum Mensch und Natur fahren. Oben im ersten Stock ist er in einer übermannshohen Glasvitrine zu besichtigen, wie er einen Bienenstock geknackt hat und sich nun an den Honigwaben labt. 1400 Stunden Arbeit hat der Präparator Dieter Schön in den Museumsbären investiert. Vorbild für die Szene ist die Nacht, in der Bruno den Imker in Kochel heimgesucht hat.

Der Bär sieht aus, als wäre er soeben ertappt worden. Den braunen Kopf hat er nach hinten gerichtet. Aus dunklen Glasaugen blickt er den Betrachter an.

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Quelle:
SZ vom 14.05.2016/angu
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