Süddeutsche Zeitung

Unterhaltung:Ein Traumfilm seit 101 Jahren

Das Parkkino in Bad Reichenhall zählt zu den schönsten Lichtspielhäusern im Land. Aber nicht nur deshalb ist es bei den Bürgern so beliebt.

Von Johann Osel

Vielleicht sollte man mit der Geschichte des Parkkinos in Bad Reichenhall zunächst im Kinderzimmer von Josef Loibl beginnen, Ende der Siebzigerjahre in der Hallertau. Der Bub bekam den alten Schwarz-Weiß-Fernseher der Oma geschenkt und baute sich ein Gestell: für den roten Vorhang. "Das Licht geht aus und der Vorgang auf, das ist dieses Gefühl, dass der Zauber los geht", schwärmt Loibl und strahlt wie wohl einst der Bub. Im Kino seiner Heimatgemeinde hat er gearbeitet, die Lust am Filmtheater hat ihn gepackt und zum "Kinomenschen, durch und durch" gemacht, 32 Mal hat er "Der mit dem Wolf tanzt" angeschaut. Die Leidenschaft hat ihn später nach München geführt, wo er als Leiter mehrerer Häuser Profi in Sachen Filmezeigen und Besuchermanagement wurde. Nun steht Loibl, 52, im Vorführraum seines eigenen Kinos, "unser Mikrokosmos". Neben ihm eine turmartige Tonanlage, CDs stapeln sich für die individuelle Pausenmusik: Tschaikowski etwa oder Aretha Franklin. Er will seinen Gästen "eine Show drumherum" bieten, "wie bei einem zweistündigen Urlaub". Den roten Vorhang, der das tiefe Blau von Wänden und Sitzen im großen Saal kontrastiert, kann man von hier aus steuern, natürlich.

Dieses Kino lässt einem schon mit seiner Einrichtung, wenn gar kein Film läuft, das Herz aufgehen: die drei Säle mit knapp 200 Plätzen, freigelegter Stuck mitunter, Art-Déco-Stil und vor allem der Mini-Saal in Gold, mit Tischchen und Polstern wie im Kaffeehaus vergangener Zeiten. Die Lounge und Kasse mit Ledersesseln und alten Lampen, Filmplakate überall und Souvenirs der Filmgeschichte. Hier ist nichts Standard, das Programm selbstredend auch nicht. Das macht das Kino von Loibl und Kompagnon Max Berger aus. Wobei, wirft Loibl ein: "Es ist eigentlich nicht unser Kino, es ist das Kino der 17 000 Reichenhaller, für die machen wir das." Damit das so bleibt, auch in harten Zeiten auf dem Markt, hat er sein Leben diesem Haus verschrieben.

100 Jahre alt, ganz genau 101 Jahre, ist das Kino in der Kurstadt im Berchtesgadener Land nun, seit gut 20 Jahren führen es die leidenschaftlichen Cineasten. Berger ist eher der Technikfuchs, drängt nicht so in die Öffentlichkeit. Dafür ist Loibl ein Lautsprecher, kann Stunden erzählen. Ihr Kino ist ein Kleinod in einer Welt, die Film als überall verfügbares, auch flüchtig konsumierbares Medium kennt. Es erzählt zudem über die Situation von Lichtspielhäusern heute. Und es ist ein Streifzug durch die Kino- und auch die Kurgeschichte in der Voralpenstadt Bad Reichenhall.

In den Kolonnaden des Hotels Axelmannstein steht das Haus, im Zentrum des Kurbetriebs. Es herrscht gedeihliche Ruhe, so sehr, dass Spötter von "Bad Leichenhall" sprechen. Der Reha-Rummel vor der Gesundheitsreform in den Neunzigerjahren, als Kuren noch wie Lutschbonbons verordnet wurden, ist vorbei, Aktivurlauber sind heute eher hier. Weder Massenauflauf, noch Großbürgerprotz. Das war mal anders: 1899 wurde der Ort in den Reigen der königlichen Bäder aufgenommen, eine Blütezeit. Ein Reiseschriftsteller schrieb da, in den Sommerfrischorten am Gebirge zeige sich, dass viele an Nationen übergegangen seien: Tölz und Partenkirchen seien preußisch, andere Orte von Hannoveranern oder Sachsen eingenommen, den Münchnern gehörten Starnberg und Miesbach. Aber: "Reichenhall gehört der Welt im allgemeinen." Beim Flanieren sehe man "gekrönte Häupter und solche, die es zu werden wünschen, Damen von denkbar höchstem Rang, Erb- und vortrefflich erzogene Nebenprinzen, nebst anhänglichen Seelen, die sich in solchem Glanze sonnen wollen oder müssen". Loibl spricht von "Grandeur" seinerzeit - weshalb es logisch war, dass man mit der Mode ging. Auch beim neuen Medium der Cinématographen.

1918 wurde ein Kur-Kino gegründet, anfangs auch als Tanz-Café und Bauerntheater genutzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Haus nur für Lichtspiele wiedereröffnet und erlebte die goldenen Jahre der Kinos, als sie ein Fenster zur weiten Welt waren. Bis zum ersten Kinosterben in den Sechzigern hatte im Landkreis fast jeder kleine Ort ein Kino: in Reichenhall allein waren es vier. Heute sind es im Kreis noch zwei, Berchtesgaden und eben die Kurstadt. Dafür gibt es klotzige Cineplexx-Tempel im nahen Salzburg. Doch in Zeiten, in denen wieder viel von Kinosterben die Rede ist - wie hält man sich da?

281 Spielstätten

in 169 Kommunen gab es im Jahr 2018 laut Statistik der FFA Filmförderungsanstalt in Bayern. Das sind bundesweit die meisten Kinos, es sind sogar etwas mehr als im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW. Dort liegt allerdings liegt die Zahl der verkauften Eintrittskarten (21 Millionen, in Bayern nur 18,5 Millionen) höher - was dafür spricht, dass in Bayern kleinere Standorte und Nischenanbieter noch eher überleben können. Gleichwohl herrscht die Sorge vor einem weiteren Kinosterben: Vor 20 Jahren zählte man noch 340 Kinos im Freistaat.

Loibl und Berger lernten sich in München kennen, der eine Kinoleiter, der andere Vorführer. Selbständig machen wollten sie sich, das Reichenhaller Haus war in der Fachpresse ausgeschrieben. Sie übernahmen es 1998 und legten los: mit "Der Pferdeflüsterer" und der Klamotte "Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit". Wird schon gut gehen. Doch: "Wir wurden mit der harten Realität konfrontiert", ihrem Steuerberater standen die Sorgenfalten im Gesicht. Loibl war, auch wenn er der Magie des Kinos verfallen war, von Berufs wegen ein "Multiplexmensch", in Münchner Großkinos galt es, Geschäfte zu machen - Blockbuster am besten rund um die Uhr. In Bad Reichenhall brauchte es ein anderes Konzept, eines, das den Geschmack der Bürger trifft. Einige Leitideen: Blick in die Nische, "wenn Mainstream, dann besonders"; generell "nicht jeden Scheiß mitmachen"; deutsche Filme gern, US-Blockbuster weniger (derzeit läuft "Star Wars", nur auf Englisch); insgesamt allerdings "nicht zu arthousig", um Leute nicht zu verschrecken. Dazu kommt Loibls eigener Geschmack. Lieblingsfilm? "Vom Winde verweht" von 1939, nie wieder werde es etwas Besseres geben. "Jede Einstellung ist so schön, dass man anhalten und sich das stehende Bild an die Wand hängen kann."

Das Konzept klappt offenbar gut, "das macht so viel Spaß, die Dankbarkeit der Besucher". Man pflege eine besondere Bindung zum Kleinstadtpublikum. Dazu zählen Veranstaltungen. Das Kino lädt Schauspieler und Regisseure für Gespräche ein, passend zum Film singt auch mal ein Gospel- oder Seemannschor. Bei "Mary Poppins" durften die Kinder Luftballons mit ihren Wünschen steigen lassen. Zum Film "Downtown Abbey" zelebrierte man im Hotel nebenan eine britische Teestunde, in Frack und Abendkleid. Für die Komödie "Bettgeflüster" kreierte ein Feinkosthändler ein Liebeselixier. "Alle Säle voll", sagt Loibl, "ich kann mich nicht erinnern, dass die Leute mal so gelacht haben." Womöglich lag's am Schnaps im Elixier.

Loibl will Filme "veredeln, ein bisschen zum Leben erwecken. Die Leute hungern nach den Veranstaltungen, das sind soziale Treffpunkte." Meist seien sie rasch ausverkauft nach der Ankündigung. "Ein solcher Ort mitten in der Stadt, da muss sich einfach was rühren. Wir sind eingeflochten ins gesellschaftliche Leben." Dazu gehört auch: Kinderkino mit Rahmenprogramm oder Seniorenkino. Trifft man sich mit Loibl vormittags, geht im Viertelstundentakt die Tür auf. Lieferanten kommen, Angestellte haben die Kinomacher keine, selbständig heißt ja selbst und ständig. Aber es kommen auch Passanten, mit Fragen, oder sie wollen Filmtipps. Loibl duzt alle. Oder einer will den dritten Saal mieten, das kann man für kleines Geld. Heiratsanträge hatten sie dort schon.

Zwei Damen sind heute hier, für "Bettgeflüster" im Separee. Loibl nimmt nur den normalen Kartenpreis, dafür kaufen ihm die beiden eine Flasche Sekt ab. Imbiss darf im Goldkammerl mitgebracht werden, "nur nix Cremiges". Apropos Essen: Popcorn gibt es im Kino nicht, umherfliegendes Fett schadet den Projektoren. Die Kunden haben sich an Gummibärchen gewöhnt. "Es soll eh der Film im Mittelpunkt stehen." Auch das kennt Loibl aus Münchner Zeiten anders, für den Kinoleiter konnten die Gäste nie genug Popcorn kaufen. Stets Umsätze vor Augen.

Inzwischen hat er Auszeichnungen vor Augen. Es sind so viele Urkunden, dass die Wand im Kino nicht mehr reicht. Gerade haben sie zum 20. Mal in Folge den Programmpreis des Filmfernsehfonds Bayern erhalten, neben allerlei weiteren Ehrungen. Das bringt auch Geld in den Betrieb. Wobei Loibl sagt, er sei "kein Geldmensch", stecke einfach alles ins Kino. Zu investieren gibt es in dem denkmalgeschützten Ensemble viel. Im Februar hat der Wind das Dach abgerissen, seit 20 Jahren bauen sie im Grunde um und modernisieren. Für das letzte größere Preisgeld kauften sie neue Brandschutztüren.

"Damit Kino ein besonderer Ort bleibt" - so hat neulich die Digitalministerin Judith Gerlach das Ziel staatlicher Prämierung definiert. Kino sei mehr als moderne Technik und Blockbuster, Häuser in ganz Bayern müssten Perspektiven haben. Aufgeschreckt wurde die Szene zuletzt, als das älteste Kino dicht machte, das Gabriel in München. Und durch das schlechte Kinojahr 2018: Die Fußball-WM, ein langer Sommer und ein mauer Hollywood-Jahrgang haben dazu beigetragen, sicher aber auch der Trend zum Schauen im Netz, gerne in Heimkinos. "Wo früher ein Partyraum war, ziehen sich die Leute ihr Kino hoch", sagt Loibl. Aber echte Kinos seien eben Orte für Erlebnisse, wo die Leute zusammenkommen. Und genau das sei weiter gefragt. Wenn eine alte Dame bei "Die Schöne und das Biest" weint nach der Vorstellung, freut sich Loibl. "So etwas ist der Grund, warum man Kino macht."

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SZ vom 31.12.2019/vewo
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