Süddeutsche Zeitung

Sternenhimmel:Wenn der Große Wagen zum Rentier wird

Alle Menschen blicken in dieselben Sterne. Trotzdem sehen nicht alle dasselbe. Im oberbayerischen Bad Heilbrunn entsteht ein Atlas - der "Sternenhimmel der Menschheit".

Von Paul Schäufele, Nantesbuch

So fängt alles an: Zweihundert Jahre nach der ersten ökologischen Totalkatastrophe, die gemeinhin "Sintflut" genannt wird, donnert und blitzt es. Die sprachlosen Menschen auf der brachen Erde haben das noch nie gesehen, reagieren verängstigt und tun etwas bis dahin nicht Getanes. Sie heben den Kopf und merken, dass über ihnen ein Himmel hängt. Am Himmel sind Zeichen, ergo sind dort auch Antworten zu finden. So will es jedenfalls Giambattista Vico, der große Außenseiter der Philosophiegeschichte, 1725 in seinem Hauptwerk, der "Scienza Nuova". Wie tatsachenkonform das ist, weiß keiner. Sicher ist, dass die Menschheit dann öfters den Blick zum Himmel gerichtet hat, sinnvollerweise nachts.

Welche Menschheit? Und welcher Himmel? Denn unterschiedliche Kulturen haben im Zeichenkomplex des nächtlichen Himmels unterschiedliche Erzählungen gefunden. Um diese Sternbilder und Himmelserzählungen zu rekonstruieren, zu sammeln und einander gegenüberzustellen, braucht es langen Forscher-Atem. Den bringt die Stiftung "Kunst und Natur" auf, mit ihrem neuen Langzeitprojekt "Sternenhimmel der Menschheit", auf das erste Blicke geworfen werden können während einer Veranstaltungsreihe vom 2. bis 5. September im "Langen Haus" des Guts Nantesbuch (Gemeinde Bad Heilbrunn).

Protagonist und Haupt-Rechercheur des welt- und himmelumspannenden Projekts ist der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott, der in seinen Werken schon häufiger Fragen nach dem Ursprung gestellt hat. Woher kommt die Poesie? Woher die Welt? Und jetzt eben: Woher kommen die Sternbilder? Neben dem Interesse an großen Fragen und deren lebendig-erzählerischer Beantwortung bringt der habilitierte Komparatist seine philologische Expertise ein, seine Erfahrung mit alten Sprachen und entlegenen Wissensgebieten, was dem Projekt eine solide wissenschaftliche Grundlage gibt.

Ein besserer Sammler wäre schwer zu finden gewesen, einer, der den Reigen der Fächer schlüssiger zusammenführen kann. Astronomie trifft auf Anthropologie, trifft auf Naturkunde, Poesie und Religionswissenschaft. Das Ergebnis soll ein Atlas der Sternenhimmel sein. Alle siebzehn erschlossenen Himmel in einem Band, mit Illustrationen von Heidi Sorg.

Wenn Raoul Schrott von seiner Kollegin spricht, tut er das mit einem staunenden Respekt vor dem visuellen Vorstellungsvermögen, das sich in den filigran konkreten Umsetzungen der beschriebenen Sternbilder zeigt - "visuelle Archäologie" nennt Schrott das. Überhaupt kommt der Autor aus dem Staunen kaum heraus, wenn er von den Arbeiten erzählt, die in Nantesbuch präsentiert werden sollen. Dem Staunen schließt man sich gerne an. Denn was sich in den akribisch aus hunderten Quellen gewonnenen astronomischen Konstellationen zeigt, sind nicht einfach Figuren, die sich eine bestimmte Kultur an den Himmel gezeichnet hat, sondern es ist die Sache selbst.

Der Große Wagen wird bei den Inuit zum Rentier und bei den Maya zum feuerroten Ara

"Jede Kultur hat das für sie Zentrale an den Himmel projiziert, alles ist in nuce da", sagt Schrott und findet dabei zwei Vergleiche, die den Zugang veranschaulichen. In ihrer Repräsentativität, ihrer Wichtigkeit für die jeweilige Kultur entsprechen die Himmel der Sixtinischen Kapelle. Hier ist die Weltsicht einer Kultur in einem visuellen Medium fixiert. In ihrer Funktionsweise vergleicht Schrott die Bilder dagegen mit dem Rorschach-Test. Erkannt wird nur, was schon einmal erkannt wurde. So ergeben sich Differenzen zwischen den Himmeln, die doch von jedem Punkt der Erde aus (mehr oder weniger) dieselben Konstellationen zeigen. Was hierzulande in klassisch griechischer respektive alttestamentlicher Tradition Großer Bär und Großer Wagen heißt, wird bei den Inuit zum Rentier und bei den Maya zum feuerroten Ara.

Die Sternbilder erlauben Einsicht in Denken und Gedächtnis der Kulturen und in intimste Bereiche, die nicht immer gerne preisgegeben werden. Als Schrott den Maori begegnete, um sich fragend ihren Himmel zu erschließen, hieß es schnell "Auf Wiederschauen". Die Verbindung der Kultur mit dem Himmel ist eng, die Frage danach zu persönlich, als dass sie einfach einem Fremden erörtert werden könnte. Bleibt nur das vom Geist der Gründlichkeit animierte Quellenstudium. Schrott trägt zusammen, übersetzt und deutet, was ihm Internet und Bibliotheken bieten: Berichte von Missionaren, Volksschullehrern, teilweise auch Videos von Angehörigen der jeweiligen Kulturen.

Doch auch dort, wo der Sternglaube noch lebendiges Wissen ist, erscheint es selten schriftlich fixiert oder gar in Form von Karten. Die Arbeit, die Schrott und die Mitarbeiter der Stiftung bis zum vorläufigen Abschluss des Projekts 2024 leisten, ist damit mindestens doppelt motiviert. Im Nachvollziehen der unterschiedlichen Blicke auf die Sterne entsteht eine Kulturgeschichte der Menschheit, die an den Himmel geschrieben wurde. Doch ebenso wird damit ein Wissen auf Bestand gestellt, das oft schon halb vergessen ist. Den global verteilten Kulturen wird so auch etwas zurückgegeben. Die Mythen sind in Schrotts Prosa festgehalten; Heidi Sorgs Bilder können in Planetarien auf der ganzen Welt gezeigt werden.

Bis es soweit ist, muss noch einiges geschehen. Solange lädt die Stiftung "Kunst und Natur" dazu ein, sich im bayerischen Oberland von den Perspektiven des Projekts selbst ein Bild zu machen. Wie immer mit einem prominent besetzten Programm, das wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse mit künstlerischen Formaten in spektakulärer Landschaft verbindet. Den Auftakt macht am Donnerstag, 2. September, Raoul Schrotts Eröffnungsvortrag, an den sich ein astronomisches Gespräch und Musik schließen sowie immer wieder die Möglichkeit, den Blick zum hoffentlich sternklaren Himmel zu richten.

Die beiden Folgetage stellen zwei bereits kartographierte Himmel vor. Zuerst die dynamischen, von Jagdszenen bewegten Sterne der Inuit. Neben einem Vortrag von Schrott können hier unter anderem Corinna Harfouch und Ulrich Noethen in einer szenischen Lesung erlebt werden; kanadischer Inuit-Kehlkopf-Gesang erweitert die Klangkulisse. Dann, am Samstag, der potentiell unheilbringende Himmel der nordafrikanischen Tuareg, vorgestellt im wissenschaftlichen Gespräch und in einer Lesung (Blixa Bargeld, Nadeshda Brennicke, Michael Rotschopf); Tuareg-Musik aus Mali stellt die Atmosphäre her, in der sich die Sterne ein letztes Mal beobachten lassen. Denn die Schlussveranstaltung ist die sonntägliche Matinee, bei der Michael Köhlmeier alte Sternsagen erzählerisch zum Leben erweckt. Plätze sind pandemiebedingt begrenzt, aber schon im vergangenen Jahr hat sich das Modell des "Landschaftsradios" erprobt. Besucherinnen und Besucher nehmen sich Kopfhörer und verfolgen das Programm auf dem Gelände, mit Blick nach oben (Himmel) oder nach vorne (Berge).

"Es ist ein riesiges Unterfangen." Da hat Raoul Schrott wohl recht. Was am Ende wirklich dabei herauskommt, ist noch offen. Wahrscheinlich eine originelle Sichtweise auf die originellen Sichtweisen der Kulturen. Vielleicht auch das: Ein neues Verständnis des heute so oft ignorierten Himmels, ein neues Repertoire an Bildern, wenn wir nachts in der Hängematte liegen und probeweise Linien zwischen den Sternen suchen. Schon das wäre viel.

Sternenhimmel der Menschheit, Bad Heilbrunn, alle Termine unter https://kunst-und-natur.de/

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