Familien in Bayern:Geschützter Ort für einen Neuanfang

Familien in Bayern: Mia und Anna schaukeln auf dem Spielplatz von Haus Felix. Das Haus gegenüber wird zum Spielen und für gemeinsame Feste genutzt.

Mia und Anna schaukeln auf dem Spielplatz von Haus Felix. Das Haus gegenüber wird zum Spielen und für gemeinsame Feste genutzt.

(Foto: Maximilian Gerl)

Im Haus Felix leben suchtkranke Eltern und ihre Kinder. Wer in diese Einrichtung in Bad Aibling zieht, will sich eine neue Zukunft aufbauen.

Von Maximilian Gerl

Irgendwann gab Andrea ihre Tochter weg. Nicht, weil sie sich überfordert gefühlt habe, sagt sie heute, "im Gegenteil, es war aus Schutz für die Anna". Wer auf Crystal Meth sei, im Rausch, sei wie in einer anderen Welt. Man könne dann nicht zu 100 Prozent für ein Kind da sein. Also gab Andrea ihre Tochter zu ihrer Mutter, ein paar Straßen weiter. Jeden Tag ging sie hinüber, um Anna zu besuchen. Natürlich habe sie ihr etwas zu essen gemacht, ihre ersten Schritte erlebt, sagt Andrea. Aber richtig Zeit mit ihr habe sie nicht verbracht. "Man denkt, man hat viel verpasst."

Einige Jahre ist das her. Anna ist inzwischen sechs Jahre alt und wohnt wieder mit ihrer Mutter unter einem Dach, in Bad Aibling im Haus Felix. Die Einrichtung wird vom Deutschen Orden getragen. Sie ist für volljährige, vorwiegend suchtkranke Eltern gedacht, die allein für ihre Kinder sorgen. Der Aufbau und die Stabilisierung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung stehen im Fokus. Heißt: Für die Erwachsenen geht es vor allem darum, sich auf einen Alltag außerhalb der Einrichtung vorzubereiten und mehr Verantwortung für ihre Kleinen zu übernehmen.

Auf dem Tisch steht frischer Zitronenkuchen. Die Schnitten sind zu einem Kreis drapiert, drumherum Sofa, Sessel, weiße Wand. Andrea sitzt mit dem Rücken zum Fenster, Melanie ihr gegenüber. Die Kinder sind mit Betreuerinnen draußen unterwegs. Sie schnappen frische Luft statt Erinnerungen. "Den Weg, den ich gegangen bin, der war so ziemlich beschissen", sagt Melanie. Sie wohnt zusammen mit Mia im Haus, ihrer jüngsten Tochter. Sie ist 14 Monate alt. Ihre zwei älteren Geschwister leben bei Pflegeeltern, eine Anordnung des Jugendamts. "Es ist gut so, wie es ist", sagt Melanie, "auch wenn es teilweise echt noch wehtut." Andrea und Anna, Melanie und Mia heißen eigentlich anders. Ihre richtigen Namen tun nichts zur Sache. Suchtkranke werden häufig gesellschaftlich geschnitten, selbst wenn sie längst abstinent leben. Dabei kann Sucht jeden treffen. Sie macht keine Unterschiede. Und sie nimmt keine Rücksicht, weder auf die Betroffenen noch ihre Angehörigen.

Bevor sie nach Bad Aibling kamen, verliefen die Leben von Andrea und Melanie anders und doch ähnlich. Andrea nahm unter anderem Crystal Meth, Melanie Heroin und Kräutermischungen. Beide haben keine abgeschlossene Ausbildung. "Ein Familienleben hat es nicht groß gegeben", sagt Andrea: Sie habe sich erst in ihre Rolle als Mutter finden müssen, wickeln, füttern, all das. Anna entstamme einer "einmaligen Sache", ihr Vater sei gestorben. Alkohol. Melanie harrte acht Jahre bei einem Mann aus, der dealte, gewalttätig gegen sie wurde, im Gefängnis landete. Die Drogen schob er ihr über den Tisch, damit sie still hielt, so erzählt sie es. Viel früher hätte sie ihn verlassen müssen, aber sie sei abhängig von ihm gewesen und habe nicht gewusst, wohin mit sich. "Die Kinder mussten viel mit ansehen."

Familien in Bayern: Sippen, Sitten, Soziotope - wie Familien heute leben, SZ-Serie.

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Das Haus Felix ist ein geschützter Ort; viel Grün, etwas Wald. Die Einrichtung bietet Platz für zehn Erwachsene - meist Frauen - und ihre Kinder. Das Hauptgebäude besteht aus Gemeinschaftsräumen wie Küche und Wohnzimmer sowie Wohnungen. Die meisten haben zwei Zimmer und ein kleines Bad, genug Raum, um ihn nach persönlichen Vorlieben zu gestalten. Vorne, jenseits von Gartenzaun und Straße, fährt manchmal der Zug nach Rosenheim. Hinten wartet ein Spielplatz mit Schaukel und Trampolin. Daneben steht ein kleineres Haus, das zum Spielen oder für Feste genutzt wird. Der Kurpark von Bad Aibling liegt einen kurzen Spaziergang entfernt.

Melanie scheint die Dinge anders machen zu wollen als früher. Dazu zählt, der Jüngsten zu ersparen, was die Älteren sahen. Noch vor Mias Geburt zog sie in Bad Aibling ein. Ihre beiden anderen Kinder besucht Melanie ein- bis zweimal im Monat. Mehr als einen guten Kontakt zu ihnen zu halten, könne sie momentan leider nicht leisten, sagt sie. Andrea und Anna leben seit etwa einem Jahr im Haus. "Mittlerweile haben wir eine Bindung", beginnt Andrea. Dann fehlen ihr die Worte. Unbeschreiblich. Sie erzählt, wie sie kürzlich auf Heimatbesuch waren. Erst habe Anna bei der Oma schlafen wollen, überlegte es sich doch anders - und fuhr wieder mit der Mama heim. "Sie hängt an mir."

Familien in Bayern: Viel Grün, etwas Wald - und Platz für sich und andere: Das Haus Felix, in dem Melanie (links) und Andrea derzeit leben, ist ein geschützter Ort.

Viel Grün, etwas Wald - und Platz für sich und andere: Das Haus Felix, in dem Melanie (links) und Andrea derzeit leben, ist ein geschützter Ort.

(Foto: Maximilian Gerl)

Im Haus Felix finden Andrea und Melanie eine Alltagsstruktur. Tagsüber sind Betreuerinnen anwesend. Manchmal stehen dann Gesprächstermine an, alleine, mit anderen oder den Kindern. Mittwochs finden gemeinsame Ausflüge statt, etwa in den Münchner Tierpark. Vor allem aber gibt es immer jemanden zum Reden. Das fällt mitunter und gerade am Anfang schwer, doch das Haus Felix ist eben eine Wohngemeinschaft: Man lebt unter einem Dach, muss sich mit den Mitbewohnern auseinandersetzen - und mit sich selbst. Eine Betreuerin sagt, auf Dauer könne sich hier niemand als Mensch verstecken. Melanie sagt, natürlich gebe es auch mal Streit, aber sie sei froh, hier zu sein. Andrea sagt, sie alle seien wie eine Familie. Ein größeres Kompliment gibt es vielleicht nicht.

Den Weg aus der Suchtmittelabhängigkeit muss jeder selbst finden. Anderthalb bis zwei Jahre bleiben die meisten Bewohner im Haus Felix. Danach sind sie und die Bindung zu ihren Kindern so stabil, dass sie sich außerhalb der Einrichtung eine Zukunft aufbauen können. Ein großer, herausfordernder, mutiger Schritt. Auf dem Weg dorthin gehe es für die Mütter und Väter vor allem darum, psychosoziale Problemlagen zu überwinden, sagt die Leiterin der Einrichtung: sich in der Persönlichkeitsentwicklung so zu stärken, dass sie "ihre Erziehungsverantwortung in geeigneter Weise" wahrnehmen könnten.

Melanie überlegt, nach ihrer Zeit im Haus Felix in eine größere Stadt zu ziehen. Bad Aibling sei ihr auf Dauer zu klein. Außerdem wolle sie wieder arbeiten, am liebsten im sozialen Bereich. "Ich kann nicht von meinen Kindern verlangen, dass sie einen guten Abschluss brauchen, und ich sitze mit Hartz IV daheim." Andrea sagt, das Wichtigste sei, dass es Anna gut gehe. Sie sei ein aufgewecktes Kind, wissbegierig und "ein Wirbelwind". Wenn es einen Plan für die Zukunft gebe, dann "nicht mehr so zu leben wie vorher". Andrea kann sich vorstellen, mit ihrem Freund zusammenzuziehen und ein gemeinsames Kind zu bekommen. Eigentlich wollten sie dieses Jahr heiraten, doch der Freund erlitt einen Rückfall. Er wartet derzeit auf einen Platz in einer Suchtklinik. "Wir machen das schon", sagt Andrea. Es klingt ihr sehr ernst damit.

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