Süddeutsche Zeitung

Axt-Angriff in Würzburg:Vom netten Jungen zum wütenden Attentäter

  • Schon wieder hat ein Einzeltäter Menschen aus politischen Motiven attackiert - und das mitten in der fränkischen Provinz.
  • Ein 17-Jähriger hat mehrere Menschen in einem Regionalzug bei Würzburg schwer verletzt.
  • Bei einer Durchsuchung seines Zimmers wurden eine handgemalte IS-Flagge sowie ein Text auf Paschtu gefunden.
  • Bekannte schildern den Täter als ruhig, offen und sympathisch. Viel spricht dafür, dass er sich im Stillen radikalisiert hat.

Von Katja Auer, Nürnberg, Olaf Przybilla, Würzburg, Ronen Steinke und Wolfgang Wittl

Für Günter Karban ist es die furchtbarste Nacht seines Lebens. Er wohnt direkt an der Bahnlinie, die Würzburg und Treuchtlingen verbindet. Es ist laut in seinem Garten hinterm Haus; wenn ein Zug durchrauscht, vibriert bei ihm das Geschirr. Aber die Regionalbahn, die sich am Montagabend kurz nach 21 Uhr nähert, rauscht nicht durch. Sie bleibt direkt an seinem Garten stehen. Karban sieht Menschen, die schreiend den Waggon verlassen. Den 17-Jährigen, der kurze Zeit später in den Main-Auen auf der Flucht erschossen wird, sieht er nicht. Er hat die Bahn weiter vorne verlassen.

Gegen 21 Uhr sei er wohl in Ochsenfurt in den Zug gestiegen, sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann. Er habe dann "sehr schnell" Fahrgäste attackiert. Der junge Mann verletzt sie mit einer Axt und einem Messer, vier von ihnen schwer. Er habe, berichten Zeugen, offenbar aus heiterem Himmel die Waffen gezückt und willkürlich auf Fahrgäste eingeschlagen. Eine Familie aus Hongkong trifft es am schlimmsten.

Der 17-Jährige attackiert Mutter und Vater, die Tochter und deren Freund. Zwei Menschen sind am Dienstag noch in Lebensgefahr. Der Täter greift auf seiner Flucht noch eine Frau an, die in der Nähe der Gleise unterwegs ist.

Der Angreifer hat eine Art Abschiedsbrief hinterlassen. Die Ermittler hätten ein Schriftstück entdeckt, das als "Abschiedstext an den Vater" interpretiert werden könne, sagt Herrmann. "Und jetzt bete für mich, dass ich mich an diesen Ungläubigen rächen kann, und dass ich in den Himmel komme", heißt es darin. Ein Fahrgast hatte am Montagabend per Polizeinotruf mitgeteilt, der Angreifer habe "Allahu Akbar" gerufen, Gott ist am größten. In seinem Zimmer wird später eine handgemalte Flagge der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gefunden, weiße Farbe auf schwarzem Stoff.

Offenbar hatte der Täter erst vergangenen Samstag eine Nachricht aus Afghanistan erhalten: Ein Freund von ihm sei ums Leben gekommen - ein Schock. In den Tagen danach habe er viel telefoniert, sagen die Ermittler. Mit wem? Am Dienstagmorgen macht ein Tweet die Runde, der einen Teil der Antwort geben könnte. Die Aktivisten des dschihadistischen Netzportals Amaq verbreiten, der Axt-Täter sei ein "Kämpfer des IS" gewesen. Amaq ist kein Sprachrohr des IS, sondern eine Aktivistengruppe, die der Terrormiliz nahesteht; sie beruft sich auf "eine Quelle aus dem Sicherheitsbereich". Noch fehlt jeder Hinweis darauf, dass der IS mehr weiß, als in der Zeitung steht.

Genauso war es schon beim Einzeltäter von Orlando, der am 12. Juni in einem Nachtclub 49 Menschen ermordete, genauso war es auch vergangene Woche bei jenem Mann, der in Nizza 84 Menschen mit einem Lastwagen tötete. Hinterher gab es zwar Lob aus dem IS-Lager sowie den Versuch, den Täter im Nachhinein zu vereinnahmen. Aber Hinweise darauf, dass der IS vorher etwas wusste, fehlten. Auch ein Video, das Amaq Stunden später nachschiebt, lässt Fragen offen.

Die Aufnahme dauert gut zwei Minuten, darin spricht der junge Mann auf Paschtunisch, also in einer afghanischen Sprache. Allerdings berichtet das ZDF am Dienstagabend aus Ermittlerkreisen, einige Formulierungen ließen darauf schließen, dass der Täter vielleicht gar nicht aus Afghanistan, sondern aus Pakistan stamme. Die Aktivisten von Amaq präsentieren das Video als Beleg dafür, dass sich der Täter von Würzburg dem IS angeschlossen habe.

In dem Video sagt der junge Mann, er sei ein "Kämpfer des Kalifats" und zu einer "Märtyrer-Attacke in Deutschland entschlossen". Er erwähnt Attacken in Frankreich, und er droht: "Ich werde euch mit diesem Messer abschlachten, und ich werde eure Hälse mit Äxten abschlagen." Von einem Anschlag auf einen Zug ist nicht die Rede.

Kanzleramtsminister Peter Altmaier sagt später jedoch im ZDF, die Ermittler gingen davon aus, dass das Video echt sei. Zeugen beschrieben den Jugendlichen als ruhigen, ausgeglichenen Menschen. Er sei in die Moschee gegangen, aber nur an Feiertagen.

Als fanatisch sei er zuvor nie aufgefallen. Auch Simone Barrientos nicht. "Ich stehe vollkommen neben mir", sagt sie. Barrientos ist Verlegerin in Ochsenfurt, sie engagiert sich schon lange im Helferkreis für Flüchtlinge. Sie hat den 17-Jährigen gekannt, und sie spricht schon den ganzen Tag mit anderen, die ihn gekannt haben. "Ein sympathischer, offener, freundlicher Junge", sagt sie. Sagen alle. Er hat Deutsch gelernt, spielte bei einem örtlichen Sportverein mit, alles, wie es sein soll. Und nun das.

Alle tun ihr jetzt leid, sagt die Helferin. Natürlich die Opfer. Aber auch die Familie, die den Flüchtling vor zwei Wochen aufgenommen hatte, in einem kleinen Ort bei Ochsenfurt. "Aber auch, verdammt, der Junge", sagt sie. "Wie verzweifelt muss man sein, um so was zu tun? Er war doch noch ein halbes Kind!"

In dem kleinen Ort bei Ochsenfurt macht eine Frau mit traurigen Augen die Wohnungstüre auf. Hier hat der 17-Jährige in den beiden letzten Wochen gelebt. Schon in der Nacht haben die Ermittler das Zimmer durchsucht. Zwei Kinder hat die Familie, sie leben noch zu Hause, und zuletzt war da eben noch ein Gast aus Afghanistan. Nein, sie wolle nicht sprechen, sagt die Frau. Nur ein Satz. "Er war durchaus nett und zuvorkommend." Und nein, diese IS-Fahne, über die jetzt alle reden, habe man nicht gesehen. Dann schließt die Frau die Türe. Vor der Türe plätschert ein Bach, ein fränkisches Idyll.

24 Fahrgäste waren in dem Zug, 14 von ihnen erlitten einen Schock. Erst die Schreie, dann die Hubschrauber. Um 21.15 Uhr war der Notruf bei der Einsatzzentrale in Würzburg eingegangen. In Günter Karbons Garten im Stadtteil Heidingsfeld sieht man noch die Spuren des Einsatzes. Rote Flecken führen von den Gleisen zum Vorgarten. Karban ist rausgerannt, überall lagen blutende Menschen.

Das Schlimmste war: Karban ahnte, dass das der Zug ist, in dem seine Freundin sitzt. Er war es auch. "Das war wirklich wie im schlechtesten denkbaren Horrorfilm", sagt er. Der 50-Jährige führt nach hinten. Die Einsatzkräfte haben am Gleis eine Schneise durch hüfthohes Kraut geschlagen. Dort ist der 17-Jährige in Richtung Main geflohen.

Täter lebte mehrere Monate lang in kirchlicher Einrichtung

Ein Spezialeinsatzkommando war zufällig in der Nähe, es wurde sofort nach Heidingsfeld umgeleitet. Die Beamten verfolgten den 17-Jährigen. Der Main fließt etwa 500 Meter entfernt, parallel zu den Gleisen. Dort unten ins Gestrüpp ist der 17-Jährige gelaufen, an Gewerbeanlagen vorbei, bis zu einem geteerten Weg. Da ging der Attentäter mit seinen Waffen auf die SEK-Beamten los.

Diese töteten ihn mit mehreren Schüssen. Der Jugendliche kam als sogenannter unbegleiteter minderjähriger Flüchtling vor mehr als einem Jahr nach Deutschland. Seit März lebte er in Ochsenfurt, zunächst in einer kirchlichen Einrichtung, dann ist er zu der Pflegefamilie umgezogen. Das Kolpingheim, in dem er wohnte, gleicht am Dienstag einer Festung. Polizisten riegeln sämtliche Eingänge ab, der hübsche zweigeschossige Bau mit den Kastanienbäumen davor ist jetzt zu einem Hort geworden, in dem offenbar ein Amokläufer herangewachsen ist.

Es herrscht ein rauer Ton. Der Leiter der Einrichtung will nichts sagen, eine Mitarbeiterin wird laut, als man sie auf den Jugendlichen anspricht. "Das geht Sie einen Dreck an, ob ich ihn kannte", sagt sie. Der 17-Jährige sei intensiv betreut worden, sagt Bayerns Sozialministerin Emilia Müller, er habe ein Praktikum absolviert und die Aussicht auf eine Lehrstelle gehabt. "Derzeit noch völlig unerklärlich" sei es, wie es trotzdem zu der Gewalttat kommen konnte.

Günter Karban hat irgendwann in dem Getümmel seine Freundin entdeckt. Sie war nicht in dem Abteil, in dem der 17-Jährige gewütet hat. Aber sie hat die Schreie gehört, das viele Blut gesehen. Irgendwann, ein paar Stunden nach Mitternacht, sind sie zu Bett gegangen. Am Morgen muss der Sohn zur Schule. Die 45-Jährige ist von Notärzten betreut worden in der Nacht, aber fünf Stunden später ist sie wieder auf den Beinen und versucht, in den Alltag zurückzukommen. "Nützt ja nichts", sagt sie.

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SZ vom 20.07.2016/mmo
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