Süddeutsche Zeitung

Auswirkung der EU-Gesetze:Die EU und du

Europa ist weit weg? Mitnichten. EU-Regelungen greifen massiv in den Alltag der Menschen ein. Auch in München. Denn die EU achtet nicht nur auf die Wasserqualität von Badeseen, sondern auch darauf, was in Kitas auf den Tisch kommt.

Aus der SZ-Redaktion

Luftschadstoffe und Lärm

Im Grunde ist Joachim Lorenz (Grüne) ein überzeugter Europäer. Beim Thema Luftschadstoffe aber schimpft Münchens Umweltreferent regelmäßig auf seine Politikerkollegen in Brüssel. Denn während die Europäische Union (EU) den Städten rigide vorschreibt, bis zu welchen Grenzwerten sie ihren Bürgern diverse Luftschadstoffe zumuten dürfen, geht Brüssel bei den Autoherstellern viel laxer vor -auch, weil die deutsche Regierung sich im Sinne der Konzerne eingesetzt hat. Nun muss man sich bei der Stadt Maßnahmen einfallen lassen, wie man die Belastungen mit Schadstoffen (und Lärm) verringert. Umweltschützer fordern harte Einschnitte: flächendeckend Tempo 30, Fahrverbote, Citymaut. Lorenz setzt auf kleine Schritte, etwa Tempo 50 statt 60 auf der Landshuter Allee. Aber er weiß: So wird er die Werte nicht unter die vorgegebenen Grenzen drücken.

Umweltschutz

Die Buchstaben FFH stehen für "Flora-Fauna-Habitat" und bezeichnen Gebiete, die der höchsten Schutzklasse innerhalb der EU unterstehen. Für FFH-Gebiete sind spezielle Schutzmaßnahmen vorgeschrieben, allerdings sind diese sehr vage formuliert. Im Umland gilt das Isartal als FFH-Gebiet. Dort gibt es Konflikte, etwa zwischen Naturschützern und Mountainbikern. Oder weil die Stadt überhängende Nagelfluh-Felsen mit aufwendigen Konstruktionen sichern möchte, Umweltschützer aber einen zu großen Eingriff in die Natur befürchten. Letztlich könnte auch beim Streit um die dritte Startbahn die FFH-Richtlinie noch eine Rolle spielen. Denn die Piste dort soll ebenfalls in ein FFH-Gebiet betoniert werden. Der Bund Naturschutz erarbeitet derzeit eine Beschwerde bei der EU.

Vorfeldbeschäftigte

Die Betreibergesellschaft des Flughafens und die Gewerkschaft Verdi verfolgen selten gemeinsame Interessen. Anders sieht das beim Kampf gegen weitere Liberalisierungspläne der EU-Kommission aus: So wollte Brüssel die Airport-Betreiber dazu verpflichten, weitere Konkurrenten zur Abfertigung der Jets auf dem Vorfeld zuzulassen. Das sehen Verdi und Flughafenbetreiber kritisch: Auf Druck der EU ist seit einigen Jahren bereits ein weiterer Anbieter auf dem Vorfeld tätig: das Unternehmen Swissport/Losch. Die Fluggesellschaften, allen voran die Lufthansa, wiederum nutzten die neue Konkurrenz, um Druck auf den Flughafen auszuüben: Sie versuchen, die Preise für die Vorfelddienste zu drücken. Öffne man den Markt für weitere Anbieter, steige der Druck weiter, befürchten Flughafen wie Arbeitnehmervertreter. Ein Protest führte zumindest zu einem Teilerfolg: Es gab keine Einigung, die Pläne sind derzeit in der Schwebe.

Erasmus

Sie sind die wahren Europäer: Studenten, die mit einem Erasmus-Stipendium für ein oder zwei Semester oder ein Praktikum ins Ausland gehen. 33 Länder nehmen mittlerweile an dem Programm teil. Das erweitert den Horizont und hilft, Kontakte zu knüpfen. Immer mehr Hochschulen suchen sich auch ausländische Partner für Forschungsprojekte. Als Erasmus-Stipendiat zahlt man im Ausland keine Studiengebühren, erworbene Leistungen werden anerkannt, zudem erhält man monatlich bis zu 400 Euro. Eine feine Sache, die Plätze sind begehrt, es werden jedes Jahr mehr. Gut 6800 Studenten sind im Wintersemester 2012/13 dank Erasmus von bayerischen Universitäten ins Ausland gegangen. Umgekehrt kamen mehr als 3600 ausländische Studierende nach Bayern.

Comenius-Austausch

In den Köpfen junger Leute sei Europa schon angekommen, sagt Ulrike Brosch-Cruel. Die Lehrerin koordiniert im Gymnasium Hohenburg in Lenggries das Comenius-Projekt. Schüler aus sieben EU-Ländern lernen sich dabei kennen. Bisher gab es vier Treffen, eines ist Brosch-Cruel dabei klar geworden: "Im Verborgenen gibt es die europäische Identität bereits." Im April waren 54 Schüler und Lehrer aus Dänemark, Italien, Polen, Portugal, Slowenien und Ungarn zu Gast. Pina Franzini aus Italien sagt: "Wir wollen den Kindern helfen zu verstehen, dass sie zu einem großen Land gehören."

Konditoren

Torte mit Beipackzettel: Unter diesem Begriff kursiert eine neue EU-Richtlinie unter Konditoren, der Name ist nicht unbedingt freundlich gemeint. Im Dezember wird die Brüsseler Regelung in Kraft treten, nach der für jedes Gebäck und jede Praline ein Informationsblatt anzufertigen ist, das alle Inhaltsstoffe auflistet. Die Aufklärung über allergene Zutaten bei "loser Ware" sei grundsätzlich sinnvoll, findet man in der Verbraucherzentrale. Dem stimmt Karl Eisenrieder zu, aber der Geschäftsführer der Cafés "Münchner Freiheit" sieht Probleme bei der Umsetzung. Eine Sachertorte zum Beispiel bestehe aus "mindestens 30 bis 35 Inhaltsstoffen", die er nicht nur auflisten und den jeweiligen Anteil am Gesamtprodukt errechnen müsse. Zusätzlich sei eine ständige Aktualisierung nötig, da sich die Zusammensetzung der Grundzutaten, etwa der verwendeten Marmelade, ändern könne. "Das ist ein riesiger Verwaltungsaufwand", sagt der Konditormeister, dessen Kunden ab Dezember auf Wunsch den Ordner mit den Deklarationslisten einsehen können. Bisher habe die mündliche Information gut funktioniert. "Wer unter Allergien leidet, erkundigt sich bei den Verkäuferinnen nach den Inhaltsstoffen. " Sein Betrieb werde die neue Regelung nur umsetzen können auf Kosten einer Verkleinerung - des Sortiments.

Ausschreibungen

Das Bildungsreferat denkt wahrlich nicht gerne an das Vergabeverfahren für das Kita-Essen zurück. Mehr als 21 000 Münchner Kinder in städtischen Einrichtungen sollten gesundes Mittagessen erhalten. Doch die Stadt konnte nicht einfach einen Anbieter nach Wahl verpflichten: Ab gewissen Summen schreibt das EU-Recht europaweite Ausschreibungen vor. In diesem Fall lag die Grenze bei gut 200 000 Euro. Weil Firmen aus dem EU-Ausland nicht benachteiligt werden dürfen, konnte das Bildungsreferat nicht vorschreiben, dass potenzielle Bewerber aus dem Raum München stammen sollen. Immerhin ein Unternehmen, Kindermenü König aus Moosach, sicherte sich trotzdem den Zuschlag. Auch bei Bauvorhaben etwa ist eine europaweite Ausschreibung vorgeschrieben, wenn sie teurer als 5,1 Millionen Euro sind.

Herkunftsschutz

Ob sie eher luftig-weich oder resch sein soll, ist Geschmackssache. In jedem Fall darf DE/PGI/005/00971 nicht einfach so unter jenen Namen über die Theke gehen, unter denen sie hierzulande geläufig sind: die bayerische Breze, Brezn, Brez'n oder sogar Brezel. Ihre Herkunft als spezielles regionales Produkt schützt die EU. So wie auch das Münchner Bier, registriert unter Nummer 0516. Aktuell laufen Anträge auf Herkunftsschutz für bayerisches Rindfleisch, bayerisches Bier, Oktoberfestbier, Honig und Obazda. Der Herkunftsschutz ist also reichlich kulinarisch. Seit 1992 bietet die EU Labels für den Ursprung agrarischer und ernährungswirtschaftlicher Produkte und für geografische Angaben an.

Forschungsförderung

Fördergelder der EU machen schon heute einen wichtigen Anteil der Drittmittel an Hochschulen und Forschungseinrichtungen aus, Tendenz steigend. Ein ERC-Grant gehört zu den begehrtesten Auszeichnungen für Wissenschaftler. Die Anträge beim Europäischen Forschungsrat (ERC) sind sehr anspruchsvoll: das eingereichte Projekt muss aktuell und einzigartig sein. Bayern unterhält eine Beratungsstelle für Wissenschaftler, die beim Einreichen hilft: die bayerische Forschungsallianz (BayFor). Wer mit seinem Projekt zum Zuge kommt, darf sich über eine ordentliche Fördersumme freuen: Maximal 2,5 Millionen Euro werden ausgezahlt, für bis zu fünf Jahre. Damit lassen sich Mitarbeiter und Recherchen finanzieren. Derzeit genießen 103 Wissenschaftler in Bayern eine solche Förderung. Von 2007 bis 2013 wurden so knapp 204 Millionen Euro an bayerische Wissenschaftler vergeben. Zudem werden Forschergruppen an den Max-Planck-Instituten für Biochemie in Martinsried und für Quantenoptik in Garching gefördert, die bis zu 15 Millionen Euro für ihre Leistungen erhalten können.

Stadtgüter

Nur wenige wissen, dass die Stadt München zehn große landwirtschaftliche Güter besitzt. Gut Karlshof bei Ismaning etwa ist berühmt für seine 550 Mastochsen. Gut Riem ist ein Bio-Betrieb, die Hoffeste sind sehr beliebt. Ohne die EU und ihre Agrarzahlungen erginge es den Stadtgütern aber wie den anderen 90 000 Bauern in Bayern. Sie schrieben tiefrote Zahlen, die meisten müssten dicht machen. "Wir bewirtschaften 1672 Hektar Acker- und Weideland, die Hälfte ökologisch", sagt Stadtgüter-Chef Alfons Bauschmid. "Für jeden Hektar erhalten wir die Agrarförderung der EU." Alles in allem 494 000 Euro im Jahr. Das ist fast zehnmal so viel wie die 50 000 Euro Plus im Jahr, das die Stadtgüter erwirtschaften. Anders gesagt: Ohne die EU wären die Stadtgüter jedes Jahr mit 440 000 Euro im Minus.

Badeseen

Der Germeringer See ist ein idyllischer See im Kreis Fürstenfeldbruck, zu dem an Sommertagen viele Badegäste pilgern. Das liegt auch an der guten Wasserqualität. Bisher erhielt er stets die zweitbeste Note auf der vierstufigen Skala von hervorragend bis mangelhaft. Für die Skala und die monatlichen Tests ist die EU verantwortlich, genauer gesagt die Richtlinie 2006/7/EG. In Bayern sind 384 Badestellen an 301 Seen EU-Badestellen. Ihr Wasser wird nach einem standardisierten Verfahren ständig auf Sauberkeit kontrolliert. Die gute Nachricht: Nicht nur der Germeringer See ist top, so gut wie alle Badeseen in Bayern sind es. Ausreichend oder mangelhaft ist die Qualität nur ganz selten, etwa nach Hochwasser, das Gülle oder anderen Unrat in einen See geschwemmt hat.

Städtische Kliniken

Seit Ende April ist es offiziell: die Stadt München darf weiter Millionen in ihre Krankenhäuser stecken. Das gilt als gute Nachricht, denn sonst wären die Kliniken in Bogenhausen, Harlaching, Neuperlach, Schwabing und an der Thalkirchner Straße in wenigen Monaten insolvent. Früher hat die Stadt regelmäßig Verluste ihrer Krankenhäuser ausgeglichen, doch inzwischen setzt das EU-Wettbewerbsrecht solchen "Beihilfen" strenge Grenzen. Die Kommission wacht darüber, dass der Wettbewerb in der EU funktioniert, private Unternehmen sollen nicht benachteiligt werden. Investieren darf die Stadt nach den EU-Regeln schon - aber nur, wenn ein privater Träger das auch tun würde. Um das zu prüfen, gibt es "Private-Investor-Tests". Einen solchen hat die Stadt mit ihrem Sanierungsplan gerade bestanden. Strittig ist allerdings, ob das EU-Recht in vollem Umfang für kommunale Kliniken gilt, da Städte für die medizinische Daseinsvorsorge verantwortlich sind und auch unrentable Bereiche wie etwa eine Notfallversorgung anbieten müssen.

Wasserversorgung

Beim Wasser hört der Spaß sehr schnell auf. Die Vorstellung, Brüssel könne die Münchner Wasserversorgung privaten Konzernen ausliefern, sorgte im vergangenen Jahr für einen Empörungssturm. Dabei hatte die EU eigentlich nur festschreiben wollen, dass eine Ausschreibung unter bestimmten Transparenz-Kriterien zu erfolgen habe. Und ansonsten freiwillig sei. Der Teufel steckte aber, wie so so oft bei EU-Vorstößen, im Detail: Denn eine Direktvergabe ohne Ausschreibung war an strenge Kriterien geknüpft - und die erfüllten die Münchner Stadtwerke nicht. Dass das Thema inzwischen vom Tisch ist, haben die Freunde des kommunalen Wassers der europaweiten Solidarität zu verdanken: Das erste erfolgreiche europäische Bürgerbegehren hatte zur Folge, dass das Wasser aus der sogenannten Konzessionsrichtlinie herausgenommen wurde.

Zuwanderer

München und sein Umland brauchen Zuwanderer: Ohne sie könnten angesichts des sich verschärfenden Fachkräftemangels viele Stellen gar nicht mehr besetzt werden, etwa in der Kindertagesbetreuung oder in der Pflege. Auch im Handwerk und Handel geht es längst nicht mehr ohne Migranten: So hat die Industrie- und Handelskammer München allein für die Region München errechnet, dass rund 100 000 Stellen nicht besetzt werden können. Zuwanderer aus der EU mit entsprechenden Qualifikationen finden meist rasch einen Job. Ein Viertel der Einwohner Münchens sind Ausländer, der Anteil der EU-Ausländer an der Gesamtbevölkerung liegt bei 11 Prozent. Große Schwierigkeiten, in München Fuß zu fassen, haben Menschen ohne berufliche Qualifikation und ohne Deutschkenntnisse. Ihnen bleiben oft nur schlecht bezahlte Hilfsjobs, mit der sie sich kaum die Existenz und meist keine feste Bleibe sichern können.

GBW

Dass die Landesbank ihr Wohnungsunternehmen GBW versilbern musste, geht auf eine Auflage der EU zurück. Das hochdefizitäre Geldhaus sollte sich aufs Kerngeschäft konzentrieren und die öffentliche Hand für deren finanzielles Engagement bei der Rettung der Bank entschädigen. Verkauf heißt allerdings nicht zwangsläufig Privatisierung. Anders als von der Staatsregierung dargestellt, hätte die EU nichts gegen eine Übernahme der GBW durch den Freistaat gehabt - wenn der die gleichen Konditionen bietet wie ein privater Interessent.

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