Aussteigerin auf Zeit:Allein mit sich - und 60 Kühen

Aussteigerin auf Zeit: "Ich wollte wissen, wie es ist, auf sich selbst gestellt zu sein." Sibylle Leimeister lebt eigentlich in Nürnberg, doch einmal im Leben wollte sie einen Sommer auf einer Alm verbringen. Aus ihren Tagebuchaufzeichnungen ist dann ein Buch geworden.

"Ich wollte wissen, wie es ist, auf sich selbst gestellt zu sein." Sibylle Leimeister lebt eigentlich in Nürnberg, doch einmal im Leben wollte sie einen Sommer auf einer Alm verbringen. Aus ihren Tagebuchaufzeichnungen ist dann ein Buch geworden.

(Foto: Privat)

Sibylle Leimeister hat einige Monate auf einer Alm in Südtirol verbracht - und ein Buch über ihre Erlebnisse geschrieben. Das spricht viele ältere Menschen an, die sich nach einem einfacheren Leben sehnen.

Von Anika Blatz, Nürnberg

Dreck zwischen den Zehen, geschwollene Füße in verstaubten Sandalen, abgestoßener roter Nagellack. Als Sibylle Leimeister nach getaner Arbeit an jenem Abend an sich herunterblickt, wird ihr endgültig klar, dass sie ihr gewohntes Leben für die nächsten drei Monate hinter sich gelassen hat. Auf 2000 Metern Höhe geht es um Elementares - das Überleben von Mensch und Tier. Da wirken lackierte Nägel geradezu grotesk. Und so realisiert die Städterin allmählich, worauf sie sich eingelassen hat: Auf einer Alm in den Bergen Südtirols, fernab der Zivilisation ist sie verantwortlich für 60 teils trächtige Kühe, zwei Ziegen, zwei Schweine, mehrere Katzen, zwei pubertierende Hütebuben und gelegentlich für verzweifelte Wanderer, die ein Obdach suchen.

Strombetrieben ist auf der Berghütte nur die Milchzentrifuge. Zweimal am Tag, zum Melken, kommt das Aggregat zum Einsatz. Kochen, Backen, Waschen, Heizen, das Aufbewahren von Lebensmitteln - all das muss ohne Elektrizität bewältigt werden. Wenn die Sonne untergeht, werden die Zimmer mit Kerzen beleuchtet. Außerdem muss Leimeister sich mit der schwierigen Bauersfamilie arrangieren, die im Tal lebt, mit Heimweh plagen, und daran gewöhnen, dass der als "kleiner Ausschank" beschriebene Bewirtungsbetrieb in Wahrheit ein florierendes Ausflugsziel ist.

Es sei ihr lang gehegter Lebenstraum gewesen, den Sommer auf einer Alm zu verbringen, erzählt die 63-Jährige, die als pharmazeutisch-technische Assistentin in einer Nürnberger Apotheke arbeitet: "Ich wollte wissen, wie es ist, auf sich selbst gestellt zu sein." Als ihr Sohn für ein Jahr nach Australien geht, erfüllt sie sich diesen Traum und meldet sich als freiwillige Sennerin bei der Bergbauernhilfe. Was Leimeister in ihrem Roman "Zeitlang - Mein Sommer auf der Alm" schildert, ist eine Reise in vergangene Zeiten. Ohne Elektrizität. Ausgeliefert. Dem Wetter, dem Schicksal, den eigenen Gedanken.

Anfangs noch ängstlich und unsicher, gehen ihr die ungewohnten Arbeiten im Laufe der Wochen immer leichter von der Hand: Auseinanderbauen der Zentrifuge, Verarbeiten der Milch zu Graukäse, Ausflügler bekochen und bewirten. Irgendwann sei durch die monotone, gleichförmige Tätigkeit eine Leere entstanden, erzählt Leimeister, "die man nutzt, um in sich selbst zu gehen". Etwas, wozu die Nürnbergerin in ihrem Leben zwischen Beruf, Kindern und Ehemann wenig Zeit hatte.

Ein Buch über ihre Erfahrungen zu schreiben, das hatte Leimeister gar nicht im Sinn, wenn sie abends bei Kerzenlicht ihre Tagebucheinträge verfasste. "Es sollte für meinen Sohn sein. Rein privat." Doch dann, Jahre später, traf sie auf einer Wanderung eine Lektorin, die sie ermutigte, ihre Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Die Geschichte einer Selbstfindung. "Es war eine Grenzerfahrung, aber ich habe in dieser Zeit vieles gelernt - für das ganze Leben", sagt die 63-Jährige. Sie sei viel gelassener und ruhiger geworden, rege sich nicht mehr über Kleinigkeiten auf, sei schöpfungsverbundener. "Es hat Spuren hinterlassen, die ich nicht missen möchte."

Sogar mit der herrischen Bäuerin hat sie ihren Frieden geschlossen: "Ich habe Verständnis für sie, das Leben hat sie hart gemacht." Sie habe viel von ihr gelernt. Nicht alles so schwer zu nehmen, zum Beispiel. Zufriedener zu sein. Nicht so viel zu grübeln. Die Dinge nehmen, wie sie sind.

Sibylle Leimeister liest immer wieder aus ihrem Roman und teilt ihre Erlebnisse. Vor allem ältere Menschen könnten mitfühlen. "Sie können sich noch gut an dieses Leben erinnern", sagt Leimeister. Viele sehnten sich danach zurück, gerade in Zeiten der Digitalisierung. "Ich empfehle jedem so mit der Natur zusammenzuleben und auf sie zu hören," sagt Leimeister.

Sibylle Leimeister: Zeitlang - Mein Sommer auf der Alm. Athesia Verlag, 14,90 Euro. Nächste Lesung am 3. März, 18.30 Uhr, im Begegnungszentrum wabene in Erlangen, Henkestraße 53.

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