Wenn in Bayerns staatlichen Behörden demnächst Kreuze aufgehängt werden sollen, muss man über den Sinn des Zentralsymbols des christlichen Glaubens nachdenken.
Zunächst zum Historischen: Der Jude Jesus von Nazareth wurde an einem Freitag wohl im Jahre 30 vom römischen Präfekten Pontius Pilatus in einem prozedural nicht eindeutig festgelegten Verfahren aus politischen Gründen verurteilt und dann von römischen Soldaten gekreuzigt. Dies war eine besonders diskriminierende Strafe bei Aufruhr und Hochverrat. Sowohl Jesu Anhänger als auch seine jüdischen Gegner deuteten seinen Tod als wirksame Widerlegung der in ihn gesetzten Heilserwartungen.
Dass einzelne Jünger, vor allem Frauen, ihre elementare Enttäuschung in einen triumphalen Sieg umdeuteten, markiert den Ursprung des Christentums. Doch taten sich die Anhänger des neuen Glaubens lange Zeit schwer damit, das am Karfreitag Geschehene sinnvoll zu deuten. Das Kreuz "brachte auch die Christen von Anfang an in Verlegenheit", kann man in einem führenden "Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft" lesen.
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Selbst christliche Jugendverbände zeigten sich "schockiert" über den Beschluss, künftig Kreuze in allen vom Freistaat verwalteten Behördengebäuden aufzuhängen.
Erst seit dem dritten Jahrhundert führten die Christen im Gottesdienst die signatio crucis beziehungsweise die Gebärde der Selbstbekreuzigung ein, als Ritual zur Abwehr des Bösen. Seit Mitte des 4. Jahrhunderts wagten sie es, das Kreuz bildlich darzustellen. Frühe Bilder der Kreuzigung stammen aus dem 5. Jahrhundert. Sie zeigen einen Christus ohne alle Leidenszüge, einen Sieger über den Tod, mit Herrscherkrone und offenen Augen.
Im Mittelalter deuteten gelehrte Theologen das Kreuz dann als Ausdruck von Leiden, Schwachheit und Erniedrigung Jesu. Nun entstanden bewusst realistische Darstellungen des Gekreuzigten mit Dornenkrone, vom Leiden verzerrten Gesichtszügen und offenen, blutenden Wunden. Eine eigene Passionsfrömmigkeit mit vielfältigen Formen der "imitatio crucis" entwickelte sich. In der Todesstunde Jesu wurde das Kreuz angebetet und verehrt, indem man "Ecce lignum crucis", "Seht das Holz des Kreuzes" sang.
Viele Theologen setzten einer "theologia gloriae" des allmächtigen Herrschers des Himmels und der Erden, die von den politischen Obrigkeiten gern für die Rechtfertigung ihrer Macht in Anspruch genommen wurde, eine "theologia crucis" entgegen, die im Kreuz ein Zeichen der Teilhabe Gottes am Leiden der Menschen sah.
Trotz allen gelehrten Streits sind sich katholische wie protestantische Theologen der Moderne seit 1800 darin einig, dass der Gekreuzigte ein neues, gegenüber anderen Religionen eigenständiges Verständnis Gottes symbolisiert. Die Vorstellung von Gottes Menschwerdung, seiner Entäußerung in das andere seiner selbst, steht im theologischen Diskurs insbesondere für die symbolische Begrenzung von Macht. Der gekreuzigte Gott verharrt nicht in ferner Transzendenz, sondern geht ins Endliche ein.
Lutherische Christen sangen an Karfreitag deshalb oft das Lied "O große Not, Gott selbst ist tot". Genau diese Gottesvorstellung unterscheidet das Christentum von den beiden anderen großen monotheistischen Religionsfamilien. Juden und Muslime werden nicht etwa diskriminiert, sondern gerade ernst genommen, wenn man die hier bestehenden Unterschiede sieht. Das Kreuz ist als das zentrale Symbol des christlichen Glaubens ein Unterscheidungszeichen. Es markiert prägnant die Differenz zu den beiden anderen großen Erlösungsreligionen.
Die Geschichte der diversen Christentümer ist reich an Versuchen, christliche Symbole politisch zu verzwecken. Vor der Schlacht an der milvischen Brücke 312 soll Kaiser Konstantin eine Vision zuteil geworden sein: "In diesem Zeichen wirst Du siegen". Seitdem lässt sich vielfältiger Missbrauch des zentralen christlichen Glaubenssymbols durch politische Herrschaftsträger beobachten.
Das Unternehmen der bayerischen Staatsregierung ist insoweit wenig originell. Sie betreibt den Missbrauch des Kreuzes für sehr vordergründige politische Zwecke. Dieselben staatlichen Amtsträger, die seit Jahren erklären, "der Islam" könne nicht zwischen Religion und Politik unterscheiden und sei deshalb nicht demokratiefähig, inszenieren nun genau jene Entdifferenzierung von Religion und Politik, unter der sie ansonsten zu leiden vorgeben.
Verfassungsrechtler mögen darüber streiten, inwieweit die Verordnung der Staatsregierung das Neutralitätsgebot des Grundgesetzes verletzt, demzufolge der freiheitliche Staat sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren darf. Aber die fatalen religionskulturellen Wirkungen des bayerischen Staatskreuzes lassen sich auch unabhängig von der fälligen juristischen Debatte bestimmen.
Das Kreuz schließt Juden, Muslime, Agnostiker und religiös Indifferente welcher Art auch immer aus. Es steht nicht für gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern für uralte Gräben, die jetzt neu aufgerissen werden. Es zum Zeichen irgendeiner bayerischen Kulturidentität umdeuten zu wollen, beschädigt nur seinen religiösen Gehalt. Hier wird mit einem Glaubenssymbol politisch Schindluder getrieben und so die Krise der kirchlichen Christentümer staatlich verstärkt.
Selten haben die führenden Geistlichen der beiden Volkskirchen ihre politische Schwäche und Verzagtheit so peinlich demonstriert wie in den vergangenen Tagen. Statt entschieden dagegen zu protestieren, dass die Staatsregierung das Zentralsymbol des Christlichen zum Erkennungszeichen einer Juden und Muslime ausgrenzenden bajuwarischen Stammesreligion pervertiert, hört man von Bayerns Bischöfen entweder nichts oder nur Widersprüchliches. "Wir als Kirchen werden natürlich immer darauf hinweisen, dass das Kreuz zuallererst ein religiöses Symbol ist", hat Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm erklärt. Darf man nach dem "zuallererst" fragen? Was soll es als religiöses Zeichen sonst symbolisieren können? Mit ihrem unklaren Gerede geben die Bischöfe das Kreuz zur beliebigen Verzweckung frei.
Wer die einst geführten Debatten um die "Heiligkeit" des Kreuzes kennt, kann sich über die Gedankenlosigkeit, mit der das leitende Personal der Kirchen die Deutungskompetenz über das Christliche Politikern überlässt, nur wundern. Zu guter Religion gehören Andacht und Ehrfurcht, Nachdenklichkeit und Selbstbesinnung. Das Kreuz im "Eingangsbereich" des Landratsamtes, zwischen Pförtnerloge und dem Glaskasten mit Mitteilungen der Mitarbeitervertretung, wird der weiteren Entwertung religiöser Symbole Vorschub leisten - eine gewiss unheilige Entwicklung.