Süddeutsche Zeitung

Augsburger Polizistenmord:Krank durch Einzelhaft

Depressionen, Demenz, Wahnvorstellungen: Im Augsburger Polizistenmord erklärt das Gericht den Angeklagten M. für verhandlungsunfähig. Er bleibt allerdings in Haft. Vorläufig. Der Prozess muss nächste Woche vermutlich eingestellt werden. Das Verfahren gegen seinen Bruder wird abgetrennt.

Von Stefan Mayr

Die Hauptperson fehlt. Raimund M., der mutmaßliche Polizistenmörder von Augsburg, ist zu krank, um in den Schwurgerichtssaal des Landgerichts zu kommen. Die Polizei hat ihn am Mittwochmorgen zwar von der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim nach Augsburg gefahren. Doch auf Anraten des medizinischen Gutachters Ralph-Michael Schulte verfolgt er den Erörterungstermin nicht, sondern bleibt im Keller des Strafjustizzentrums. "Herr M. ist verhandlungsunfähig", sagt der Neurologe Schulte. Er begründet dies mit der fortgeschrittenen Parkinson-Krankheit des Angeklagten, die mit Depressionen, Demenz und Wahnvorstellungen einhergehe.

Das Gericht schließt sich dem Sachverständigen an und erklärt den 60-Jährigen für "vorübergehend verhandlungsunfähig". Ob das Verfahren gegen ihn eingestellt wird, will das Gericht nächste Woche entscheiden. Allerdings bleibt der Angeklagte in Haft. "Er ist noch haftfähig", sagt der Gutachter. Noch. Wenn sich der Zustand des mutmaßlichen Mörders weiterhin verschlechtert, könnte er demnächst sogar freikommen. "Ich befürchte, dass er irgendwann haftunfähig sein wird", sagt Ralph-Michael Schulte. Um dies zu verhindern, empfiehlt er verstärkte Therapie-Maßnahmen und eine Unterbringung in einem Vollzugs-Krankenhaus mit neurologischer Expertise.

Der Gutachter berichtet etwa zwei Stunden lang von seinen zahlreichen Tests, die er seit 2012 mit dem Angeklagten durchgeführt hat. Dabei habe er zuletzt eine "rapide Verschlechterung" des Gesundheitszustandes festgestellt. Er spricht von einer "schwergradigen depressiven Episode mit psychotischen Phänomen". Der Angeklagte habe Albträume sowie "optische und akustische Halluzinationen". Schulte: "Auf einmal weint er ohne Grund wie ein Schlosshund, dann bricht das ab und plötzlich lacht er mich an."

M. leide unter "massiven Schlafstörungen" und "permanenter Ermüdung". Dass der Angeklagte die Krankheit vortäuscht, um aus der Haft entlassen zu werden, schließt der Sachverständige aus. "Neurologie kann man nicht simulieren." Auch körperlich sei M. sehr geschwächt. Die rechte Hand zittere, er könne kaum leserlich schreiben und keine Puzzleteile aneinanderfügen. "Als ich ihn leicht schubste, wäre er beinahe umgefallen." Auf die Frage des Richters, ob der Angeklagte der Verlesung eines Schriftstücks folgen könne, antwortet der Gutachter: "Das geht links rein und rechts raus."

Schulte bestätigt indirekt, dass der akute Verlauf der Krankheit auch mir der strengen Isolierung des Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt Straubing zusammenhänge. Der Mangel an sozialen Kontakten sei hierbei ein wichtiger Faktor. Der Gutachter hatte bereits Ende September einen Zehn-Punkte-Plan zusammengestellt, mit dem M. im Gefängnis therapiert werden sollte. Auf Frage der Verteidiger bestätigt Schulte, dass die zehn Punkte nur teilweise umgesetzt wurden. Unter anderem habe der Angeklagte weniger Physio- und Psycho-Therapie-Stunden erhalten als empfohlen. Auch die mit Proteinen angereicherte Kost wurde dem Gefangenen nur ansatzweise gegeben. Dies habe sich auch nach einem Brief des Gerichts an die Justizvollzugsanstalt nicht geändert.

Nach dieser Aussage wird sich die bayerische Justiz wohl dem Vorwurf ausgesetzt sehen, die Gesundheit des Angeklagten womöglich vernachlässigt zu haben. Gegen ihn wurde einst verschärfte Einzelhaft verhängt, nachdem ein Mithäftling berichtet hatte, M. plane einen Richter entführen zu lassen, um seine Freilassung zu erpressen.

Diese Einzelhaft wurde erst gelockert, als sich die Parkinson-Symptome massiv verstärkt hatten. Prozess-Beobachter fragen sich nun, ob sich die Justiz mit den verschärften Haftbedingungen einen Bärendienst erwiesen hat - vor allem im Falle einer Einstellung des Verfahrens und einer möglichen Freilassung. "Für meine Mandantin wäre das ein Horror-Szenario", sagt Walter Rubach, der Anwalt der Witwe des ermordeten Polizisten.

Den Brüdern Raimund M. und Rudi R. wird vorgeworfen, im Oktober 2011 den 41-jährigen Polizisten Mathias Vieth im Augsburger Siebentischwald erschossen zu haben. Vieths Streifen-Kollegin wurde angeschossen. Sie ist beim Gerichtstermin am Mittwoch anwesend und folgt den Ausführungen des Gutachters gebannt.

M.s Verteidiger Adam Ahmed und Werner Ruisinger beantragen die vorläufige Einstellung des Verfahrens. Das Gericht bestätigt schließlich die vorläufige Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten. Ob das Verfahren eingestellt wird, will das Gericht erst nächste Woche entscheiden. Sollte M. am 19. November weiterhin verhandlungsunfähig sein, müsste das Verfahren vorläufig eingestellt werden. Darauf deutet derzeit alles hin. Deshalb trennt das Gericht das Verfahren gegen M.s Bruder Rudi R. ab. Dieser Prozess wird am Donnerstag fortgesetzt.

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SZ vom 14.11.2013/wib
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