Süddeutsche Zeitung

Augsburg:Nicht wegsehen, sondern handeln

Der Bundesverband Deutsche Tafel wirbt mit einem Riesen-Picknick in Augsburg für mehr Solidarität. "Kümmert euch um die Ursachen der Armut, das ist eure Aufgabe", lautet der Appell an die Politiker

Von Stefan Mayr, Augsburg

So gut wie hier und heute haben die grüne Bundespolitikerin Claudia Roth und Augsburgs CSU-Oberbürgermeister Kurt Gribl wohl noch nie zusammengearbeitet. Beide tragen blaue Einweghandschuhe, orange-farbene Schürzen und weiße Kochmützen aus Papier. Gribl schneidet einen Laib Leberkäs in Stücke, Roth spaltet eine Semmel nach der anderen und legt die Leberkäs-Scheiben hinein. Nebenan fungieren diverse SPD- und CSU-Politiker als Sachbearbeiter für Kartoffelsalat und Eintopf, Pappteller und Plastikbesteck.

Es herrscht Biergartenstimmung am Samstag auf dem Augsburger Rathausplatz. Der Bundesverband Deutsche Tafel hat alle Bürger der Stadt zu einer kostenlosen Mahlzeit plus Freibier und Kaffee eingeladen. Mit der sogenannten "Langen Tafel" mitten im Wochenend-Shopping-Trubel der frisch aufgebrezelten Innenstadt wollen die ehrenamtlichen Helfer auf die Nöte armer Menschen in Deutschland aufmerksam machen. Das gelingt. Etwa tausend Menschen sitzen an den hundert Biergarnituren. Alte und unübersehbar bedürftige Senioren sitzen neben jungen Hipstern mit Designer-Jeans und Einkaufstüten. Während sie Kartoffelsuppe mit Wienerle genießen, nützt Jochen Brühl die Gelegenheit, um den Politikern und Bürgern bar jeder Diplomatie ins Gewissen zu reden. "Liebe Politiker, kümmert euch um die Ursachen der Armut und Ausgrenzung, das ist eure Aufgabe", ruft der 49-Jährige via Mikrofon von einer Bühne herab. Brühl ist Vorsitzender des Bundesverbandes, er fordert mehr Unterstützung für die knapp 1000 Tafelvereine in ganz Deutschland.

Etwa 60 000 ehrenamtliche Menschen helfen bundesweit mit, sie sammeln in Supermärkten Lebensmittel ein und geben diese an Bedürftige weiter. Dieses Angebot nehmen in Deutschland derzeit etwa 1,5 Millionen Menschen in Anspruch. Die Nachfrage steigt nach Brühls Angaben ständig an. Allein in Augsburg gebe es pro Woche etwa 50 Neuanmeldungen.

Vor allem die zahlreichen Flüchtlinge leiden laut Brühl schwere Not: "Sie kommen oft mit massiven Traumata zu uns und müssen psychologisch betreut werden." Nach Brühls Angaben kommen mehr als 100 000 Asylbewerber regelmäßig zu den Tafeln, oft seien die Tafeln ihre erste Kontaktstelle. "Aber unsere Ehrenamtlichen sind keine Experten in Flüchtlingsarbeit und sind oft großem Leid und Überforderung ausgesetzt", sagt Brühl. Es sei aber Aufgabe des Staates, sich um bedürftige Flüchtlinge wie auch Kinder und Rentner zu kümmern. "Wo seid ihr? Was tut ihr, damit ausgegrenzte Menschen wieder in die Mitte rücken können?", fragt der Mann aus Essen die Politiker.

Brühl appelliert aber auch an die Bürger, sich für die Armen zu engagieren. "Anstatt gegen Armut zu protestieren, kann man auch konkret etwas für die Bedürftigen tun." Dies sei umso wichtiger, da die Lebensmittelspenden nicht in gleichem Maße steigen wie die Anzahl der Nutzer. Brühl fordert ein Umdenken in der Gesellschaft: "Der Einzelne muss Nahrungsmittel wieder mehr wertschätzen, jeder Bundesbürger wirft im Schnitt mehr als 80 Kilo Lebensmittel pro Jahr weg." Auch Bundestags-Vizepräsidentin Roth ergreift das Wort und redet ihren Politiker-Kollegen ins Gewissen: "Es ist beschämend, dass hierzulande die Kinderarmut steigt, da muss der Sozialstaat handeln. Das darf nicht den Tafeln überlassen werden."

Noch deftigere Worte wählt Reiner Haupka von der Tafel Fürstenfeldbruck. Er sitzt auf einer der Bierbänke, lauscht den Reden der Politiker und schüttelt den Kopf. "Die Politik versagt. Deshalb müssen sich die Bürger zusammentun, um den Mangel temporär zu beseitigen." Für ihn und seine Mitstreiter wäre es der schönste Moment, wenn die Tafeln eines Tages nicht mehr nötig wären. Doch das wird seiner Meinung nach nicht eintreten. "Wir steuern doch auf die totale Altersarmut zu", sagt er. "Dazu muss man nur die Rentenerhöhungen und die Preissteigerung vergleichen." Auch im reichen Bayern ist der Bedarf groß: Etwa 7000 Helfer kümmern sich im Freistaat um mehr als 150 000 Bedürftige. Es gibt 168 Tafeln, so viele wie in keinem anderen Bundesland. Fritz Schmidt, der Vorsitzende der Augsburger Tafel, berichtet: "Die Spenden reichen nicht mehr." Ihm zufolge stellen die Discounter immer weniger Lebensmittel zur Verfügung. Früher hätten die Supermärkte einmal pro Woche Ware bestellt und dann regelmäßig ablaufende Ware gespendet. Inzwischen werde aber täglich angeliefert, deshalb bleibe weniger übrig. Es gibt aber auch positive Nachrichten an diesem Tag: Zwei Supermarktketten spenden gemeinsam mehr als 35 Tonnen Lebensmittel für die Augsburger Tafel. "Das hilft", sagt Fritz Schmidt.

Auf die Frage, ob die Politik genügend gegen die Armut unternehme, verstummt Reiner Haupka aus Fürstenfeldbruck und schaut zu der langen Schlange vor der Essensausgabe. Sein vielsagender Blick lässt seinen Wunsch erahnen: Wenn die Damen und Herren von CSU, SPD und Grünen bei diesem dringenden Problem nur genauso effektiv zusammenarbeiten würden, wie sie es gerade vor den Pressefotografen tun, dann könnte sich schnell einiges ändern.

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Quelle:
SZ vom 15.06.2015
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