Süddeutsche Zeitung

Vor dem Parteitag:Grüne schwelgen in Hochgefühlen

Der Landesverband erhofft sich von der Regierungsbeteiligung in Berlin eine weitere Stärkung - und möchte 2023 bei der Landtagswahl zur "prägenden Kraft" werden.

Von Johann Osel, München

Der Blick geht nach vorne bei den Grünen, und damit meinen die Landesvorsitzenden Eva Lettenbauer und Thomas von Sarnowski nicht nur den Parteitag am Wochenende in Augsburg. Die sich abzeichnende Regierungsbeteiligung in Berlin gebe "Rückenwind", die Grünen in Bayern würden dadurch weiter gestärkt. Mit einem Leitantrag zu Energiewende und Klimaschutz würden neue Perspektiven aufgezeigt, das Thema könne "das größte Konjunkturprogramm für ländliche Räume" werden.

Der Landesverband soll noch bunter werden, dafür will man eine Vielfaltsreferentin in der Parteizentrale installieren; auch das Frauenstatut soll angepasst werden, gibt es etwa bei Ortsvereinswahlen für Frauenplätze keine Kandidatin, soll die Stelle vakant bleiben, um "alle Hebel in Bewegung" zu setzen zur Auffindung einer gewillten Dame. Und Lettenbauer kündigte bei einem Pressetermin am Donnerstag einen "einladenden Beteiligungsprozess zu einem Regierungsprogramm" in Bayern an, 2023 bei der Landtagswahl wolle man "prägende Kraft" werden.

Tatkraft, Aufbruch, Blick eben nach vorne. Und der Blick zurück, auf die Bundestagswahl? "Politische Aussprache", mit einer Videobotschaft der gescheiterten Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, steht am Samstagvormittag auf der Tagesordnung. Sie sei sich sicher, sagt Lettenbauer, dass sich die Delegierten "rege an der Debatte beteiligen" werden. Es ist der erste Parteitag der Grünen in Präsenz seit Beginn der Pandemie. Und der erste nach der Wahl, deren Ergebnis man so oder so deuten kann. Rechnerisch als Erfolg: 14,1 Prozent schaffte die Partei in Bayern, plus 4,3 Prozentpunkte. 19 Mitglieder umfasst die neue Landesgruppe im Bundestag, man werde sie in Augsburg "gebührend feiern".

Andererseits: Zum Wahlkampfauftakt im Frühjahr, als die bayerischen Grünen in Umfragen teils bei 25 Prozent lagen, hatten die Parteichefs drei Ziele ausgegeben: eine Kanzlerin Baerbock, die Verdoppelung der Mandate aus dem Bundesland und ein starkes Abschneiden in der Fläche. Der Kanzler wird wohl Olaf Scholz heißen, in Bayern wurden die Grünen von der SPD überholt und verfehlten auch knapp die Verdoppelung der Sitze. Und in der Fläche gibt es Wahlkreise, die immer grüne Diaspora waren und es weiterhin sind: wie Deggendorf (6,7 Prozent), Schwandorf (6,4) Straubing (6,8) oder Rottal-Inn (7,1).

Die Präsenz auf dem Land soll gestärkt werden

Woran lag's? Am Einsatz nicht. Lettenbauer und Sarnowski, aber auch die Spitzenkandidaten Claudia Roth und Anton Hofreiter bespielten gerade ländliche Regionen mit kleinteiligem Wahlkampf, Veranstaltungen waren gut besucht, Mitglieder tingelten mit Fahrrad und Flyern über Dörfer. "Nicht zufriedenstellend" seien besagte Ergebnisse, meint Lettenbauer, gleichwohl habe man überall zugelegt. Noch mehr präsent wollen die Grünen künftig in der Fläche sein, auch mittels professionellerer Strukturen, verspricht die Chefin. Und man wolle gemeinsam mit den Menschen Lösungen entwickeln, in Gesprächen mit Bürgern gebe es oft Gemeinsamkeiten ("recht hast schon") - was aber offenbar nicht gleich in Wählerstimmen mündet.

"Umfragen sind nun mal keine Wahlergebnisse", sagt ein Grüner mit Einfluss und Einblick - eine in der Partei bitter bekannte Wahrheit. Zu den 25-Prozent-Umfragen-Zeiten sei man sicher so gut wie überall zweistellig gewesen, doch die Leute hätten dann doch auf den "Keine-Experimente-Gedanken" gesetzt. In manchen Regionen ließen sich die positiven Effekte des grünen Veränderungswillens kaum verkaufen, Reformen würden als "Bedrohungsszenario" gesehen. Das zu ändern, benötige Zeit. Fehler in der Strategie oder Führung habe es nicht gegeben.

Tatsächlich sind die Grünen ja auf Expansionskurs in Bayern. Seit der Landtagswahl 2018 gründeten sich fast 200 neue Ortsverbände, auch in Ostbayern. Die Kommunalwahl bescherte vielerorts satte Zuwächse, Mandate und damit lokal Sichtbarkeit. Und die Mitgliederzahl in Bayern knackt demnächst wohl die Marke von 20 000 - neue Multiplikatoren für künftige Wahlen, hofft die Parteispitze.

Manche Wahlanalyse ist in der Aussprache am Parteitag womöglich zu erwarten, großer Unmut eher nicht. Wenn doch, dann eher an der Krisenkommunikation im Bund, glauben Beobachter: So hat der Umfragen-Abstieg auch in Bayern mit der Affäre um Baerbocks Lebenslauf und der unsicheren Reaktion darauf eingesetzt. Lettenbauers Wiederwahl für zwei Jahre (Co-Chef Sarnowski kam erst heuer ins Amt) gilt als sicher. Kernstück der Debatte könnte auch wieder der Blick nach vorne sein, nicht ohne Kritik: anlässlich der Koalitionsverhandlungen und vielleicht der Sorge von Delegierten, dass darin nicht genug grüne Inhalte durchgesetzt werden.

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