Das Schößchen ist die in Falten gelegte Verlängerung des Mieders, das Bscheisserl der sichtbare Teil einer unter der Brust endenden Dirndlbluse. Der Kittelsack bezeichnet eine eingeschnittene Tasche im rechten vorderen Rockteil, verdeckt von der Schürze. „Dirndl. Tradition goes Fashion“ heißt die neue Sonderausstellung im Industrie- und Textilmuseum Augsburg. Sie zeigt nicht nur die Geschichte der weltbekannten Tracht, von der Arbeitskleidung zum modischen Statement. Die Schau zeigt Haute Couture von Lola Paltinger und Vivienne Westwood, sie zeigt das Original-Dirndl von Romy Schneider aus ihren Sissi-Filmen, sie fängt dabei aber auch ganz von vorn an – bei den Grundbegriffen.
Kaum ein Kleidungsstück ist so wandlungsfähig wie das Dirndl, das Alltagskleidung, Festkleidung, Partykleidung sein kann und das sich über die Jahrhunderte in verschiedenen Spielarten gehalten hat. „Es steht für bayerische Tradition“, sagt Museumsdirektor Karl Borromäus Murr. Und das wiederum hängt mit dem Bild zusammen, das die Medien ihrer jeweiligen Zeit vom Dirndl gezeichnet haben und das der im 19. Jahrhundert aufkommende Tourismus transportiert hat. Wo das Dirndl herkommt, wie es politisch vereinnahmt, wie es immer wieder neu interpretiert wurde, das zeigt das Textilmuseum bis Mitte Oktober auf mehr als 1000 Quadratmetern Ausstellungsfläche anhand von mehr als 100 Dirndln.

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Das Dirndl einer Sennerin aus Gaißach zum Beispiel zeugt mit seinen Abnutzungsspuren vom bäuerlichen Arbeitsalltag. König Maximilian II. von Bayern nutzte die Tracht gezielt, um ein bayerisches Nationalgefühl herauszuarbeiten. Eine Folge davon waren die ersten Trachtenvereine, die sich später, ab 1880, gründeten. In der Stadt stand und steht auch heute das Dirndl für ländliche Idylle, wo das Leben noch in Ordnung ist. Wer es sich leisten konnte, reiste bereits vor mehr als 100 Jahren ins bayerische Oberland oder nach Österreich – und ließ sich in Dirndl oder Lederhosen fotografieren. „Man inszenierte sich in der Kleidung“, sagt Kuratorin Michaela Breil. In Berlin fanden um 1880 herum Alpenbälle mit 3000 Teilnehmern statt: Tracht war in.
Die Firmen Wallach in München und Lanz in Salzburg erkannten diesen Trend früh, ihre Sommerfrischemode verbreitete sich durch Postkartenmotive und Reiseführer und auch durch weltweit reisende Theater- und Musikgruppen. Die Musicalproduktion „Im weissen Rössl“ von 1930 trug zur globalen Verbreitung der alpenländischen Kleidung und des damit verbundenen Lebensgefühls bei. Wie auch die Heimatfilme nach dem Zweiten Weltkrieg, besonders der Hollywood-Klassiker „Sound of Music“ von 1965, einer der meistgesehenen Filme der Geschichte, der bis heute das Österreich-Bild vor allem in Übersee prägt. Die Ausstellung zeigt auf einem Monitor Ausschnitte aus 15 Heimatfilmen – natürlich auch aus „Sissi“.
Zunächst jedoch versuchten die Nationalsozialisten das Dirndl entsprechend ihrer Ideologie zu vereinnahmen. Das modische Dirndl war ihnen ein Dorn im Auge, zumal von der jüdischen Familie Wallach, die Vertreibung und Tod im Konzentrationslager erleiden musste. Unter den Nazis entstanden normierte Alltagstrachten mit regionaler Prägung für eine volksgemeinschaftliche Bekleidung. Diese Vereinfachung der Tracht, auf die die bis heute andauernde sprachliche Vermischung von Tracht und Dirndl zurückzuführen ist, mündete nach dem Krieg in die industrielle Dirndl-Produktion.



Trachtenschneiderinnen fertigten für den lokalen Markt. Das Dirndl als Modephänomen wurde zur Massenware. Das Museum zeigt Werbung von Dirndl Höck aus München, etwa die Modelle „Agathe“ mit bestickten Feldblumensträußen oder „Alexia, reich an Alpenblumen“. An den preiswert hergestellten Dirndlkleidern fanden sich nun vermehrt Reißverschlüsse, das war einfach zu verarbeiten. Bis in die 1990er-Jahre, heißt es beim Textilmuseum, entfielen zwei Drittel des Umsatzes im österreichischen Bekleidungssektor auf das Segment „Tracht & Country“. Das Dirndl, sagt Museumsdirektor Murr, stehe über die Landesgrenze zwischen Österreich und Bayern hinweg für den Alpenraum wie der Kilt für Schottland oder der Kimono für Japan.
Wozu auch die berühmten Hostessendirndl für die Olympischen Spiele 1972 in München – die ersten, die weltweit im Fernsehen übertragen wurden – beigetragen haben. Das hellblaue Design ist vielen Menschen heute noch vor Augen, nicht nur wegen Schwedens Königin Silvia, die damals noch Sommerlath hieß und als Hostess ihren späteren Mann kennenlernte, Carl XVI. Gustaf von Schweden. Die 14 regionalen Dirndl für die Hostessen der Siegerehrungen, die die Trachtenschneiderin Brigitte Bogenhauser-Thoma entworfen hatte und die die kulturelle Vielfalt Bayerns repräsentieren sollten, sind bezeichnenderweise kaum in Erinnerung geblieben.
Das modische Dirndl erlebt etwa seit der Jahrtausendwende einen anhaltenden Trend als Partyoutfit und in der Gastronomie. Auch das behandelt die Ausstellung. Sehr viel mehr Platz räumt das Textilmuseum aber weltbekannten Designerinnen und ihren spannenden künstlerischen Auseinandersetzungen mit Tracht, Tradition und Neuinterpretationen des Dirndls ein. Werke von Lola Paltinger etwa, die Paris Hilton oder Kim Kardashian eingekleidet hat. Kimono-Dirndl oder solche mit portugiesischen oder afrikanischen Anklängen. Und eigens für die Ausstellung kreierte Modelle des österreichischen Designers Emanuel Burger und von Schülern der Deutschen Meisterschule für Mode in München.