Süddeutsche Zeitung

Neugeborenes ausgesetzt:"Irgendwie nichts dabei gedacht"

Etwa 34 Stunden lag ein Baby allein auf einer Wiese bei Dillingen, bevor es gefunden wurde - wimmernd, unterkühlt und offenbar verletzt durch Nagetiere oder Ameisen. Vor Gericht geht es um die Frage, warum die Mutter ihr Kind zurückließ.

Von Florian Fuchs

Die Frage, was sie sich dabei gedacht habe, kommt immer wieder auf. Die Richterin stellt sie, mehrmals. Die Beisitzerin versucht es auch noch einmal, der Staatsanwalt, sogar die Verteidigerin schaut ihre Mandantin irgendwann an und sagt: "Haben Sie die Frage verstanden? Dann antworten Sie." Doch von der Angeklagten gibt es keine Antwort, warum sie ihren allein im Badezimmer zur Welt gebrachten Säugling mitten in der Nacht nackt auf einer Wiese im hohen Gras ausgesetzt hat. "Irgendwie habe ich mir nichts dabei gedacht", sagt sie.

Etwa 34 Stunden lag der Bub im Juli 2019 auf der Wiese, bevor er zufällig von einem Anwohner gefunden wurde - wimmernd, lebensbedrohlich verwundet, schwer unterkühlt, offenbar verletzt durch Nagetiere oder Ameisen. Der Säugling hat knapp überlebt, die Mutter ist von der Polizei festgenommen worden, kurz nachdem der Bub gefunden wurde, und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Seit Dienstag muss sie sich wegen Aussetzung, versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung vor dem Landgericht Augsburg verantworten. Weil eine Sachverständige verhindert war, startete der Prozess aber erst am Mittwoch richtig. Gleich zu Beginn der Befragung durch die Vorsitzende Richterin räumt die 32-Jährige grundsätzlich ein, was die Staatsanwaltschaft ihr vorwirft.

Demnach brachte sie in der Nacht auf Sonntag, 21. Juli, gegen 1.30 Uhr ihren Buben auf die Welt. "Im Badezimmer", wie sie in ihrer Aussage am Mittwoch klarstellte. Am Abend habe ein Fest stattgefunden, sie habe deshalb bei ihren Eltern in Blindheim im schwäbischen Landkreis Dillingen übernachtet. Gegen Mitternacht hätten die Wehen eingesetzt. Als der Bub gegen 1.30 Uhr entbunden gewesen sei, habe sie mit einer Schere die Nabelschnur durchtrennt und ihn raus auf die Wiese getragen. Dort habe sie etwa 15 Minuten verharrt, dann sei sie wieder gegangen. Das Handtuch, in das die Mutter ihren Sohn eingewickelt hatte, erzählt sie, habe sie wieder mitgenommen und entsorgt. Dann legte sie sich im Wohnzimmer der Eltern schlafen, bis morgens die Nachgeburt kam. Den blutigen Teppich im Badezimmer, ihr Unwohlsein erklärte sie ihren Eltern mit starken Regelblutungen.

Die Prozessbeteiligten wollen am Mittwochvormittag einige Fragen klären, nicht nur die, was sich die Angeklagte dabei gedacht habe. Wieso niemand die Schwangerschaft bemerkt hat? Wieso die Angeklagte niemandem davon erzählt hat? Wieso sie das Baby ausgerechnet ins hohe Gras gelegt hat und nicht vor eine Haustür oder an eine Straße, wo es leicht gefunden werden kann?

Vor Gericht muss auch geklärt werden, inwieweit die 32-Jährige überhaupt schuldfähig ist. Sie ist intelligenzgemindert, lebte in Dillingen im ambulanten betreuten Wohnen und wirkt bei den vielen Fragen vor Gericht hilflos. Die Befragung dauert bereits eine knappe Stunde, da unterbricht die Verteidigerin während der Befragung des Staatsanwalts ihre Mandantin kurz. Sie versuche zu gefallen und die Antworten zu geben, die sich richtig anhörten, erläutert die Anwältin. "Ich glaube nicht, dass wir dahin kommen werden, was sie sich bei alldem gedacht hat", sagt sie.

Auch die Antworten auf die anderen Fragen sind nur teilweise erhellend. Etwa im vierten Monat sei ihr klar geworden, dass sie wieder schwanger sei, sagt die 32-Jährige. Sie hat bereits zwei Kinder. Sie habe jedoch niemandem davon erzählen wollen, ihre Eltern habe sie nicht damit belasten wollen. Sie habe Angst gehabt. Die Angeklagte ist füllig, auch bei ihren ersten beiden Schwangerschaften, sagt sie, habe sie kaum zugenommen. Wohl auch deshalb hat keiner der Betreuer ihre Schwangerschaft bemerkt. Wer der Vater ist? Drei Männer kommen in Frage, bei zwei von ihnen war der Vaterschaftstest negativ, der Dritte verweigerte sich.

Ob ihr nicht klar gewesen sei, dass das Baby im Gras hätte sterben können? Nur selten kommen dort Spaziergänger vorbei, das Gras war schon so hoch, dass es bald gemäht hätte werden müssen. "Es war ein Fehler", sagt die Frau rückblickend. Sie habe sich schon gedacht, dass das Kind auf der Wiese sterben könnte. Am Sonntagvormittag sei sie noch einmal in der Nähe des im Gras ausgesetzten Babys gewesen: Mit ihrem Sohn fütterte sie dort ein Pony. Gekümmert hat sie sich auch zu diesem Zeitpunkt nicht.

Gestorben ist der Säugling nur deshalb nicht, weil es zu der Zeit sehr warm war und der Nachbar zufällig die Route wählte, um seine beiden Pudel Gassi zu führen. Drei Zehen mussten die Ärzte dem Buben amputieren, er entwickelte bedingt durch Tierfraß eine Sepsis. Trotz Kreislauf- und Ateminsuffizienz sowie Nierenversagens wurde er wieder gesund. Heut lebt das Kleinkind in einer Pflegefamilie. Der Prozess dauert an.

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