Historische Bildungspolitik:Über Gott, Militär und ein bisschen Welt

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Ein ambitioniertes Projekt: In der Universitätsbibliothek werden Hunderte alte Schulbücher digitalisiert. (Foto: Universitätsbibliothek Augsburg, Collage: SZ)

Historische Schulbücher der Unibibliothek Augsburg geben Einblick in eine Zeit, in der die Schüler vor allem auswendig lernten - und die Kirche über allem stand.

Von Viktoria Spinrad, München/Augsburg

So ein Wirtshausabend hat ja doch etwas Sündiges. Da wird Halbe um Halbe geleert, blöd dahergeredet und das hart verdiente Geld den feschen Kellnerinnen zugesteckt, als gebe es kein Morgen. Das missfiel einem Lehrer im Jahr 1852 offenbar so sehr, dass er daraus eine Lektion machte: Wie viele Gulden könnte (ein fiktiver) Klaus in den nächsten zehn Jahren wohl sparen, tränke er seine Biere ab sofort zu Hause und nicht mehr im Wirtshaus, wo er immer gleich fünf bestellt statt drei - Schaltjahre mit eingerechnet?

Dies ist die Aufgabe Nummer 984 eines Rechenschinkens mit dem verheißungsvollen Titel "1000 und einige Hundert Rechnungsaufgaben für die Schüler und Schülerinnen der I. und II. Klasse in den deutschen Schulen". Doch der Inhalt ist alles andere als märchenhaft. Eng bedruckt folgt Rechenaufgabe auf Rechenaufgabe. Genau 1000 sind es auf gerade einmal 46 Seiten, zum "Addiren", "Subtrahiren", "multipliciren" und "Theilen". Nach Skizzen oder Bildern sucht man im Lambacher Schweitzer des 19. Jahrhunderts vergebens - so wie in den meisten Schulbüchern aus der Zeit des Bayerischen Königreichs.

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Diese war geprägt von sturem Auswendiglernen von Katechismen und militärischer Disziplin. Wer hat Himmel und Erde gemacht? Wie heißen die Gattungen zweiter Ordnung? Und wie übersetzt man "Alles mit Gott" auf Französisch? "Es ging um Quantität", sagt Werner Wiater. Der Schulpädagoge und ehemalige Vizepräsident der Uni Augsburg ist Gründer der Internationalen Gesellschaft für historische und systematische Schulbuch- und Bildungsmedienforschung. Er kennt sich also aus mit den Druckwerken, die die Kinder des Königreichs vom Staat in die Hand bekamen, in der Hoffnung, aus ihnen gottestreue, patriotische und tüchtige Bayern zu formen.

Im Frühjahr waren die Klassenzimmer leer und die Kinder auf dem Feld

Dass man sich in diese Zeit zurückversetzen kann, ohne sich mühselig durch ein Archiv wühlen zu müssen, ist nicht zuletzt Wiaters Alma Mater zu verdanken. Denn an der Augsburger Universitätsbibliothek haben sich Mitarbeiter aufgemacht, einen Teil der insgesamt 15 000 alten Schulbücher aus dem Bestand zu digitalisieren. Dafür hat die Uni extra einen externen Dienstleiter angeheuert. Bei dessen Mitarbeitern ist Durchhalten gefragt: Über Monate hinweg halten sie mit einem mobilen Scanner Seite für Seite der brüchigen Fibeln, Vorlegeblätter, Rechentabellen fest. Dabei müssen sie behutsam vorgehen, die Zeugnisse aus einer anderen Schulwelt nicht nur digital festzuhalten, sondern auch in ihrer analogen Form nicht kaputtzumachen.

Es wäre auch schade. Schließlich kann man mit ihnen in eine Zeit eintauchen, in der der Stundenplan im Wesentlichen aus Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen bestand. In der die Klassenzimmer im Frühjahr immer leerer wurden, weil die Kinder auf dem Feld gebraucht wurden und der Lehrer immer wieder zur Kirche hetzte, um die Glocken zu läuten und die Orgel zu spielen. Zwar wurden Schulen Anfang des 19. Jahrhunderts offiziell zur Staatssache. Die Schulaufsicht blieb zunächst aber bei den Geistlichen im Ort.

Entsprechend groß war der Einfluss. "Aus dem Himmel ferne - wo die Englein sind - Schaut doch Gott so gerne - her auf jedes Kind", so fromm beginnt denn auch das Lesebuch der zweiten Klasse. Einen großen Teil des Unterrichts nahmen die Katechismen der Kirche ein, die göttliche Wahrheit, in schwungvoller altdeutscher Schrift auf Papier festgehalten. Woher sind Himmel und Erde? Gibt es mehr als einen Gott? Und woher kommt es, dass wir Menschen von Natur aus dem Bösen zugeneigt sind? Folgte die Antwort nicht prompt, wurde nicht selten mit der Rute nachgeholfen.

Ein Thema: die Künste der Vaterlandsverteidigung

Wer auf etwas kreative Abwechslung im Kunstunterricht hoffte, dürfte enttäuscht gewesen sein: Wo heute Comics entworfen und Dürers Gemälde mit dem Kästchensystem übertragen werden, mussten unsere Urgroßeltern stumpf Linien und Dreiecke nachzeichnen. Klare Strukturen gab es auch beim Sprachunterricht. Wer die "Conversation" aus dem Jahr 1901 aufschlägt, taucht nicht etwa in eine bunte Welt aus Sprechblasen und einem sprechenden Papagei namens Arthur ein. Nein, das Buch ist ein sportlicher Ritt durch nützliche Übersetzungen. Von "Gott segne dich!" (" Que Dieu te bénisse!") bis hin zu Nummer 642, "Das ist von hoher Bedeutung" ( "Voila qui est d'une grande importance"). Ob die höhere Tochter Hildegard Wiedenmann, die sich auf der letzten Seite verewigt hat, tatsächlich bis zum Schluss durchhielt, ist nicht überliefert.

Wohl aber, wie bereits Grundschüler in die edlen Künste der Vaterlandsverteidigung eingewiesen wurden. "Ein scheckiges Pferd - Ein blantes Gewehr - Ein hölzernes Schwert - Was braucht man denn mehr?", so rasselten die Säbel in einem Lesebuch für Zweitklässler. Der Staat setzte den Ton, grenzte sich ab, bereitete die Atmosphäre, die später in den Ersten Weltkrieg mündete. "Im Ausland war das nicht anders", sagt Wiater.

Für Humor war da nur bedingt Platz, und wenn überhaupt schimmerte er subtil durch. So auch in dem epochalen Mathewerk aus dem Jahr 1852. Als grande finale folgt auf die "Aufgaben zum besonderen Nachdenken", mit Frage Nummer 1000 eine "Aufgabe zum ganz besonderen Nachdenken" auf neun Zeilen. Gesucht ist ein aus vier Buchstaben bestehendes Wort, aus dem sich die Summe 34 ergibt, wenn man für die Buchstaben ihre Stelle im Alphabet eingibt. Welcher Lehrer seine Zöglinge mit so viel Inbrunst gefördert hat, das steht leider nirgends geschrieben. Ebenso wenig wie die Lösung des Rätsels.

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