Ingolstadt:"Wir schrubben da nicht einfach mal kurz drüber"

Audi baut mit am In-Campus in Ingolstadt, zuvor müssen die Chemikalien im Boden weg.

Die Arbeit auf der Industriebrache bei Ingolstadt ist eines der größten Sanierungsprojekte in Deutschland.

(Foto: Audi)

Wo früher eine Raffinerie stand, wollen Audi und die Stadt eine Denkfabrik bauen. Doch zuerst müssen die Altlasten weg. Stellt sich die Frage: Wie reinigt man 600 000 Tonnen Erde?

Von Johann Osel

Es ist ein unangenehmer Ort, eine Mondlandschaft mit Hügeln und Kratern; Schubraupen dröhnen vor sich hin und seltsam wirkende Riesengeräte noch ein bisschen lauter. Es staubt, obwohl ein Befeuchtungswagen seinen spritzigen Dienst verrichtet. Und es riecht nach Erde und Benzin auf der Industriebrache im Ingolstädter Südosten, auf der kein Schutz ist dieser Tage vor den knallenden Sonnenstrahlen. Richtig angenehm soll es hier werden, in fernen Jahren, wenn der "In-Campus" in Betrieb geht - ein Areal für irgendwann Tausende Mitarbeiter, mit modernen Gebäuden, Gastronomie und viel Natur. Eine Denkfabrik für den Autobauer Audi vor allem, eine Heimstätte der digitalen Zukunft für Ingolstadt.

Man kann sich das heute nicht im Geringsten vorstellen. Eine Raffinerie stand hier, über Jahrzehnte, und hat ein giftiges Erbe hinterlassen, das sich tief hineingefressen hat in den Boden: 900 Tonnen Schweröl, 200 Tonnen Leichtbenzin, dazu kommen per- und polyfluorierten Chemikalien, kurz PFC, vom Löschschaum der einstigen Betriebsfeuerwehr. Auf einer Tafel im grünen Planungscontainer des Areals sind die chemischen Obergruppen aufgeschrieben. Würde man alle Formeln ausschreiben - eine Kinoleinwand wäre nötig. Deshalb putzen sie jetzt in Ingolstadt, recyceln und sanieren, noch vier Jahre lang. Unter anderem mit einer Bodenwaschmaschine, der momentan größten in Deutschland, 1200 Tonnen Erde reinigt sie am Tag.

Rüdiger Recknagel und Fachleute seines Teams trifft man am Container. Der Leiter für Umweltschutz bei Audi hat ein bauchiges Glas dabei, voll mit Sand und Kies. Riecht man hinein, wähnt man sich an einer Tankstelle. "Sechs Millionen solcher Gläser holen wir raus und reinigen den Inhalt", sagt Recknagel. "Wir schrubben da nicht einfach mal kurz drüber übers Gelände". Dass es mehr ist als "drüberschrubben", wird er an diesem Tag noch einige Male betonen.

Im Container haben sie Informationen aufbereitet, auch für interessierte Bürger. Besser noch ist der Weg aufs Dach des Kastens, für die Dimension: Eine Fläche von hundert Fußballfeldern bearbeiten sie. Es ist ein beliebtes Vergleichsmaß, hier aber kann man es gut zu Rate ziehen, weil das Stadion des FC Ingolstadt gleich nebenan steht. Vom Dach aus wirkt es nahezu klein neben der weiten Ödnis. Es handelt sich um eines der derzeit größten Sanierungsprojekte in Deutschland.

1200 Tonnen

Erde am Tag reinigt die Bodenwaschmaschine - die größte in Deutschland. Das Erdreich ist unter anderem mit 900 Tonnen Schweröl und 200 Tonnen Leichtbenzin belastet. Insgesamt werden 600.000 Tonnen Boden gereinigt. Etwa 90 Prozent davon können wieder verfüllt werden.

Das Gelände steht auch für einen Zeitenwandel. 1965 ist die Erdölraffinerie Ingolstadt AG (Eriag) in Betrieb gegangen, Bayern machte sich damals auf den Weg zum Industrieland. "Wer jetzt und heute von Ingolstadt spricht, meint Öl", sagte der damalige Wirtschaftsminister Otto Schedl (CSU) und in der Staatsregierung hatte man etwa Texas vor Augen, als man Ingolstadt, in der Mitte Bayerns, eine besondere Dynamik in Aussicht stellte, "eine Entwicklung amerikanischen Maßstabes".

Das ist lange her, im Jahr 2009 machte der Ingolstädter Betriebsteil der mittlerweile gegründeten Bayernoil endgültig dicht. Grundsätzliche Sätze, wie damals von Minister Schedl, klingen heute zum Beispiel aus dem Mund des Oberbürgermeisters Christian Lösel (CSU) so: "Der digitale Wandel ergreift die gesamte Gesellschaft wie nie zuvor. Ein digitales Ingolstadt ist ein zukunftsfähiges Ingolstadt." In dem Sinne soll auf der Brache Zukunft entstehen. Symbolischer Kaufpreis des Areals war ein Euro. 2014 wurde die In-Campus GmbH gegründet, die Stadt hält 4,9 Prozent, Audi den Rest; beide haben aber gleiches Stimmrecht vereinbart. Zwei Jahre später wurde ein "öffentlich-rechtlicher Sanierungsvertrag" unterzeichnet.

Ingolstadt: Das Gelände im Südosten Ingolstadts soll zum In-Campus – einem Joint Venture zwischen dem Autobauer Audi und der Stadt – werden.

Das Gelände im Südosten Ingolstadts soll zum In-Campus – einem Joint Venture zwischen dem Autobauer Audi und der Stadt – werden.

(Foto: Audi)

Eine Rundfahrt mit Rüdiger Recknagel, nur ungern verlässt man den Ledersitz seines knallgelben Elektroautos, raus in die Wüste. Recknagel und Kollegen sind begeistert von dem Projekt. Weil sie es noch nie mit so etwas zu tun hatten - ein komplettes Raffineriegelände zu sanieren; womöglich auch, weil es ziemlich gut tut, als Audi-Mensch mal wieder Positives zu berichten in Zeiten von Abgasskandal und Führungskräftekrise.

Recknagel lässt die alte Raffinerie gedanklich aufleben, obwohl nichts mehr steht, keine Schornsteine, Tanks, Anlagen, Güterplätze, kann man den Verlauf der Produktion nachvollziehen - an den Belastungen. Im Norden kamen einst Rohöl und Zwischenprodukte an, wurden im Prozessfeld verarbeitet, veredelt, gelagert, verladen. Daher sind die Schäden chemisch-physikalisch zu unterscheiden; und je nach dem kommen spezielle Verfahren zum Einsatz: Luftgebläse, Bodenaushub samt Waschmaschine sowie eine Grundwasserreinigung.

Eine Raffinerie in den Donauauen? In den 60ern ging das

Das Luftgebläse heißt in bestem Englisch "Air-Sparging". Mit der Methode werden leichtflüchtige Schadstoffe aus Grundwasser und Boden entfernt. Lange Strohhalme blasen Luft ins Grundwasser, über Drainagen fließt Unerwünschtes ab. Wie bei einem Limonadenglas, in das Kinder gern mit dem Strohhalm sprudeln, sich dann aber über den faden Geschmack ärgern, wenn die Kohlensäure entwichen ist. Hier ist Entweichen Prinzip. Die Sparging-Felder surren, wie Hunderte Zahnarztbohrer - im Geräuschpegel des Geländes geht das unter.

Anders beim Bodenaushub. 600 000 Tonnen Erdreich holen sie insgesamt heraus, die Maschine nutzt riesige Waben, stampft mit ihnen wuchtig in den Boden. Nach 30 Mal ist eine Metallwabe so abgenutzt, dass sie ausgetauscht werden muss. Der Aushub wird in der Waschmaschine gereinigt, ein Klotz wie ein Haus. Der Klotz wummert, sauberer Kies und Sand plätschern durch Rohre hinaus auf Haufen. Etwa 90 Prozent des gereinigten Bodenmaterials können wieder verfüllt werden. Letztlich muss das Gelände etwas angehoben werden, weil das Grundwasser hier hoch steht.

Ingolstadt: Wie das Areal aussehen soll, wenn es in fernen Jahren fertig sein wird, zeigt das Modell des ersten geplanten Projekthauses.

Wie das Areal aussehen soll, wenn es in fernen Jahren fertig sein wird, zeigt das Modell des ersten geplanten Projekthauses.

(Foto: Audi)

Dass man in den Sechzigern eine Raffinerie just an die Auen der Donau stellte, lässt einen heute Kopfschütteln. Andere Zeiten eben. An der Grenze zur Natur steht eine Wasseraufbereitungsanlage, nichts Dreckiges soll hinausströmen. 99,9 Prozent Reinigungsleistung. Diese Anlage wird man bis 2028 arbeiten lassen - wenn der Campus weitgehend in Betrieb sein könnte. Fünfzehn Hektar des Areals, so Recknagel, geben "wir hier an die Natur zurück". Zauneidechsen und derlei Gäste sollen kommen, Naturschutzexperten mischen mit und haben schon ihre Vorstellungen zu Gehör gebracht.

In der Stadtspitze hatte man mit der wirtschaftlichen Malaise bei VW und Audi durchaus befürchtet, so hört man, dass das alles doch nichts wird. Doch der Autobauer ist wieder fit, nach Informationen des örtlichen Donaukurier will Volkswagen fast eine halbe Milliarde Euro investieren. Beim Ingolstädter OB Lösel hat die Zeitung zuletzt "Euphorie" ausgemacht, wann immer er über das Projekt oder die Digitalisierung im Allgemeinen spricht. Er sieht einen "ganz großen Wurf", "sicherlich das Zukunftsprojekt für unsere Stadt schlechthin". Dadurch würden Arbeitsplätze entstehen, die konjunkturunabhängig seien.

Diese Kooperation mit Audi sei "von unschätzbarem Vorteil für die nächsten 25 bis 50 Jahre". Vergessen zu sein scheint die Unbill, die Ingolstadt vergangenes Jahr in Atem hielt, der Skandal um mutmaßliche Korruption im kommunal getragenen Klinikum sowie Ungereimtheiten im florierenden Wohnungsbaugeschäft der fünftgrößten Stadt Bayerns, dazu ein Stadtrat, der sich zu zerfleischen drohte. Auch sonst geht der Blick nach vorne, Ingolstadt und umliegende Kreise wollen Modellregion für Mobilitätskonzepte im Luftraum werden, Flugtaxis erproben. Hatte die Staatsregierung bei der Raffinerie Texas im Sinn, so denkt man in Ingolstadt auch heute an "eine Entwicklung amerikanischen Maßstabes" - ein bayerisches Silicon Valley will man werden.

Noch in diesem Jahr soll - bei laufender Bodensanierung - der Spatenstich für einen ersten Komplex des Campus kommen. Bis Ende 2020 soll das Teilareal fertig sein. Diesem "Projekthaus" werden sukzessive weitere Bauten folgen, zunächst unter anderem ein Fahrsicherheitszentrum, ein Rechenzentrum und eine Energiezentrale. Das Audi-Werksgelände werde längst zu klein, man müsse expandieren, schon jetzt sei vieles ausgelagert, hört man beim Autobauer. Aber auch andere Firmen, Digitalfachleute, Start-ups, Tüftler sollen den Campus mal bevölkern. Zukunftsbranchen. Bis dahin werden die Bodensanierer den Zeitenwandel weiter herbeiwaschen.

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