Vor dem Zaun mag gerade Krise sein, doch hinter dem Zaun gehen die Geschäfte derzeit so gut wie schon lange nicht mehr. „Vor dem Zaun“, wie es hier in Aschau im Inn im oberbayerischen Landkreis Mühldorf heißt, da liegen eine Reihe kleinerer Betriebe und vor allem das Werk des Autozulieferers ZF, der hier mit 800 Mitarbeitern Airbags baut und gerade bundesweit Tausende Stellen streicht. „Hinter dem Zaun“ aber, wo niemand einfach so herumstreunen kann zwischen all den Hallen, Rohrleitungen, Lagern und Bunkern, da floriert die Rüstungsindustrie.
Die Rheinmetall-Tochter Nitrochemie produziert hier unter anderem Chemikalien für Artilleriemunition, und daneben stellt ein Unternehmen mit dem unscheinbaren Namen „Bayern-Chemie“ hochmoderne Treibsätze für Raketen her. Momentan wird auf dem Gelände an mehreren Stellen gebaut, es entsteht eine auf etliche neue Gebäude und Bunker verteilte Fertigung für die Antriebe von Patriot-Flugabwehrraketen. Am Donnerstag ist unter anderem Ministerpräsident Markus Söder zum symbolischen Spatenstich gekommen.
Für Söder und auch für den „Bayern-Chemie“-Mutterkonzern MBDA ist es aber eigentlich nicht der erste, sondern schon der zweite Spatenstich in derselben Sache. Erst am Montag hatte man am MBDA-Sitz in Schrobenhausen unter anderem mit Verteidigungsminister Boris Pistorius und der Wehrbeauftragten des Bundestags, Eva Högl, Baubeginn gefeiert für die künftige Patriot-Fertigungslinie, die einzige außerhalb der USA. Mehr als fünf Milliarden Euro ist der Auftrag über 1000 neue Patriot-Raketen für verschiedene europäische Streitkräfte wert.
MBDA steckt dafür nach eigenen Angaben 250 Millionen Euro in den Standort Schrobenhausen. 300 neue, gut bezahlte Jobs werde man dort schaffen, insgesamt ein Wachstum von 25 Prozent. Bisher wurden die Raketen für die Patriot-Systeme, von denen einige auch in der Ukraine russische Luftangriffe abwehren, allein vom amerikanischen Rüstungsunternehmen Raytheon in den USA hergestellt. In Schrobenhausen wurden die Raketen für Europas Armeen lediglich gewartet und modernisiert.
Die Bayern-Chemie in Aschau, die laut Geschäftsführer Wolfgang Rieck „einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag“ in die neue Fertigung investiert und die Zahl der Mitarbeiter von 250 auf 300 erhöhen will, hat von 1987 bis 1996 schon einmal Patriot-Antriebe hergestellt. Danach wurden die Anlagen abgebaut, vermeintlich gab es dafür keinen Bedarf mehr. Teile der Maschinen sind nach Auskunft eines Unternehmenssprechers stattdessen in ein Kunstwerk vor dem Verwaltungsgebäude eingegangen. Die Bayern-Chemie hat sich auf andere Systeme konzentriert, etwa Meteor-Raketen für den europäischen Kampfjet Eurofighter.
Doch dann kam im Februar 2022 der neuerliche russische Angriff auf die Ukraine und damit das, was Bundeskanzler Olaf Scholz und nach ihm viele andere „Zeitenwende“ genannt haben. Am Donnerstag benutzten auch Bayern-Chemie-Chef Rieck und Ministerpräsident Söder dieses Wort, um die Bedeutung dessen zu unterstreichen, was in Aschau und Schrobenhausen gerade entsteht.
Um das Land, die Menschen und die Demokratie zu schützen, brauche man eine starke Wirtschaft und eine robuste Armee und dürfe diese „nicht nur mit Steinschleudern“ ausstatten, sagte Söder und schmeichelte den Firmenmitarbeitern an beiden Orten in weitgehend gleichen Reden als „geile Truppe“. In einer Hinsicht sieht Söder allerdings gar keine richtige Zeitenwende: „Wir in Bayern sind Bundeswehr- und Wehrindustrie-Land, immer schon gewesen“, betonte der Ministerpräsident und hob auch die wirtschaftlichen Aspekte der neuen Patriot-Fertigung hervor: „Zwei Drittel der Wertschöpfung bleiben in Bayern.“
Das ist auch lokal ein Thema, in Aschau zum Beispiel für Bürgermeister Christian Weyrich. Der hofft, dass seine 3500-Einwohner-Gemeinde mit einem blauen Auge davon kommt, was den Stellenabbau vor dem Zaun bei ZF betrifft. Und die beiden Rüstungsbetriebe hinter dem Zaun seien zumindest bisher immer gute Arbeitgeber und verlässliche Gewerbesteuerzahler gewesen. Derzeit arbeitet die Gemeinde an einer eigenen Geothermiebohrung in kommunaler Hand, was vor allem durch verlässliche Wärme-Abnehmer in der Industrie möglich werde.
Weyrich ist froh, dass die Gemeinde ihren Ortsteil „Aschau Werk“ nicht abgegeben hat vor vielen Jahrzehnten, die Abstimmung damals im Rat war denkbar knapp. Die jetzigen Unternehmen führen ihre eigene Geschichte zwar gerne bis in die 1950er-Jahre zurück. Doch gerüstet wird in den Bunkern hinter dem Zaun schon seit der NS-Zeit. Aus dem benachbarten Werk im Wald ist nach dem Zweiten Weltkrieg die heutige Stadt Waldkraiburg hervorgegangen.