Aschaffenburg:Ein herausragendes Verfahren oder ein Gutachterskandal?

Prozessbeginn wegen Mordes im Jahr 1979

Der Schlosspark in Aschaffenburg: Dort soll ein heute 57 Jahre alter Mann 1979 eine 15-Jährige getötet haben. Der Prozess läuft.

(Foto: Michael Donhauser/dpa)
  • Vor 40 Jahren wurde die damals 15 Jahre alte Christiane J. in Aschaffenburg getötet.
  • Nun muss sich ein 57 Jahre alter Mann wegen Mordes vor Gericht verantworten.
  • Ein neuer Experte soll im Prozess klären, ob eine Biss-Spur einen Täter überführt - oder das Gutachten einer Sachverständigen wertlos ist.

Von Olaf Przybilla, Aschaffenburg

Egal, wie der Aschaffenburger Prozess um den Mord an der damals 15 Jahre alten Christiane J. zu Ende geht, er wird Rechtsgeschichte schreiben, so weit kann man es bereits sagen. Für diesen Montag ist der 15. Verhandlungstag angekündigt und der dürfte maßgeblich sein dafür, als was dieser Prozess in Erinnerung bleiben wird: als herausragendes Verfahren, in dem es gelungen ist, nach 40 Jahren einen Mörder zu überführen. Oder viel eher als Gutachterskandal, in dem nicht zuletzt eine Sachverständige einen unbescholtenen Mann um ein Haar als Schwerverbrecher hinter Gitter gebracht hätte.

Alles scheint möglich zu sein in diesem Prozess und vieles wird abhängen vom zweiten zahnmedizinischen Sachverständigen. Es geht um die Frage, ob das Gutachten der ersten Sachverständigen - einer bislang bundesweit angesehenen Zahnärztin der Rechtsmedizin - so wertlos ist, wie die 2. Große Jugendkammer dies nach selbständiger Überprüfung wesentlicher Punkte inzwischen annimmt; oder ob es zu einer professionellen Ehrenrettung kommt.

Zur Erinnerung: Im Januar, kurz nach Beginn des Mordprozesses, wirkte es für viele Beobachter schon so, als sei der 57 Jahre alte Angeklagte quasi bereits des Mordes an Christiane J. überführt. Eine Bisswunde am Opfer gilt als mit Abstand wichtigstes Beweismittel in diesem Indizienprozess - und der Aussage der Sachverständigen schien insofern eine mehr als nur maßgebliche Rolle zuzukommen. Demnach sollte nicht nur mit hoher, sondern sogar "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" davon auszugehen sein, dass der Angeklagte dem 15-jährigen Opfer die Bisswunde zugefügt hatte.

Aber nicht nur das: Dass es bei sieben Milliarden Menschen theoretisch ein sehr ähnliches Gebiss gebe, könne man zwar nicht vollends ausschließen. Angesichts der Vielzahl übereinstimmender Besonderheiten gehe freilich die Wahrscheinlichkeit, dass jemand anderes das gleiche Zahnmuster wie der 57-jährige Beschuldigte aufweise, "gegen null". Damit schien der Weg dieses Verfahrens mindestens vorgezeichnet zu sein.

Die Richter halten das Gutachten für "wertlos

Es kam aber ganz anders. Am 7. Februar hob das Landgericht den Haftbefehl gegen den Angeklagten nach fast neun Monaten auf - weil aus Sicht der Kammer kein dringender Tatverdacht mehr bestehe. Nicht nur das: Die Richter kündigten an, nun die Frage zu erörtern, ob der 57-Jährige "als Täter sogar ausgeschlossen" werden könne.

Weil dem Biss als Beweismittel eine so maßgebliche Rolle zukommt, hatten die Richter selbst zahnärztliche Unterlagen durchgesehen, nicht nur Lichtbilder, auch historische Zahnarztrechnungen. Mehr als eine Woche habe man die Arbeit gemacht, die eigentlich Sachverständigen zukomme, erklärten die Richter. Und man sei dabei auf seltsame Widersprüche gestoßen und habe die Gutachterin also abermals einbestellt. Bei dieser zweiten Vorladung habe die Gutachterin die Widersprüche "in keiner Weise fundiert entkräften" können.

So gebe es drei maßstabsgetreue Skizzen, bei denen die Biss-Spur stets an leicht veränderter Stelle eingezeichnet wurde - gleichwohl komme die Gutachterin immer zum Befund, Biss-Spur und Gebiss des Angeklagten seien kompatibel. Irritiert zeigten sich die Richter auch darüber, dass die Gutachterin bei der ersten Anhörung angegeben hatte, ein bestimmter Zahn des Angeklagten sei genetisch gar nicht angelegt und dies sei eine besondere Anomalie. Aus Röntgenbildern ergebe sich dagegen, dass der besagte Zahn sehr wohl angelegt sei.

Immerhin räumte die Gutachterin in dieser erneuten Anhörung "Fehler" ein. Die Richter dagegen halten ihr Gutachten für "wertlos" - und schalteten einen Zweitgutachter ein. Diesem dürfte nun die zentrale Rolle zukommen in diesem Mordprozess, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, weil der Angeklagte zum Tatzeitpunkt noch keine 18 Jahre alt war.

Schon die ersten Schritte in diesem Verfahren waren spektakulär, die Wende umso mehr. 2019 war ein 57-jähriger Aschaffenburger unter dringendem Tatverdacht festgenommen worden - 40 Jahre nach der angeblichen Tat. Laut Anklage soll er die Bürohelferin Christiane J. 1979, kurz vor Weihnachten, ermordet haben. Die Staatsanwaltschaft war davon ausgegangen, der 57-Jährige sei seiner damaligen Nachbarin Christiane J. auf dem Heimweg von einem Stenokurs begegnet.

Im Schlosspark soll er schließlich über sie hergefallen sein, sie ins Gebüsch gezerrt, teilweise entkleidet, in die Brust gebissen und erwürgt haben. Danach soll er sie über ein Geländer 15 Meter in die Tiefe geworfen haben. Die Einschätzung, dass die Bisswunde mit hoher Wahrscheinlichkeit vom 57-Jährigen stamme, galt laut Gericht "von Anfang an" als wesentliches Indiz für den dringenden Tatverdacht gegen den Angeklagten.

Ob er zivilrechtliche Schritte einleiten würde im Falle eines Freispruchs für seinen Mandanten? Rechtsanwalt Bernhard Zahn will "zunächst das Urteil abwarten", bevor er sich äußert.

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