Mordfall in Aschaffenburg:Wenn ein 57-Jähriger als Jugendlicher vor Gericht steht

Lesezeit: 3 min

Im Schlossgarten von Aschaffenburg wurde 1979 der leblose Körper einer 15-Jährigen gefunden. Von einem möglichen Täter fehlte Jahrzehnte lang jede Spur. (Foto: PRZ)
  • Dank moderner DNA-Analysetechniken können inzwischen jahrzehntelang zurückliegende Kriminalfälle aufgeklärt werden.
  • So auch in der Frage eines mutmaßlichen Mädchenmords vor 40 Jahren in Aschaffenburg. Der heute 57-jährige Verdächtige war damals noch minderjährig.
  • Nun wird diskutiert, ob Angeklagte, die zum Zeitpunkt der Verhandlung längst älter als 18 sind, nach Maßgabe des Jugendgerichtsgesetz behandelt werden können.

Von Olaf Przybilla, Aschaffenburg

Neue Kriminaltechnik bringt Licht in alte Fälle, und in Aschaffenburg konnte man das in letzter Zeit gleich zweimal eindrucksvoll beobachten. Da war im vergangenen Jahr der Prozess gegen einen Mann, der am 4. Januar 1988 eine 22-Jährige auf dem Weg nach Hause mit einem Schraubenzieher bedroht, in einem Waldstück stundenlang vergewaltigt, schließlich auf sie eingestochen und bei lebendigem Leib verscharrt hatte. Jahrzehnte später überführte der Abgleich von DNA-Spuren den Täter. Im Mai 2018 wurde er wegen versuchten Mordes verurteilt, unter großer Anteilnahme der Bevölkerung.

Auf noch stärkeres Interesse dürfte am Untermain nur der Fall der damals 15 Jahre alten Christiane J. stoßen, die am Abend des 18. Dezember 1979 einen Steno-Kurs besuchte und danach wohl auf ihren Mörder getroffen ist. Ihr Körper wurde über das Geländer der Schlossgartenmauer gestoßen und tags darauf von einem Parkmitarbeiter in der Nähe des sogenannten Frühstückstempels gefunden - nicht nur mitten in der Stadt also, sondern an einem der markantesten Orte Aschaffenburgs.

Ein Anruf bei
:Strafrechtler Till Zimmermann, der skurrile Urteile sammelt

Ein Professor für Strafrecht beweist mit den Urteilen, dass Juristerei und Humor sich nicht ausschließen - vor allem wenn es um Nachbarschaftsstreitigkeiten geht.

Interview von Natascha Holstein

Die Ermittler gingen 1979 von einem sexuell motivierten Tötungsdelikt aus, und wer sich die Berichterstattung des Main Echo von damals anschaut, wird feststellen: Eine Stadt suchte einen Mörder. Gefunden wurde niemand, erst im Mai 2019 wurde ein Tatverdächtiger festgenommen. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den 57-Jährigen erhoben. Er soll damals bereits im Fokus der Ermittler gestanden haben, die Indizien aber reichten offenbar nicht aus. Sollte das Landgericht Aschaffenburg die Anklage zulassen, könnte der Prozess gegen den Mann im Januar 2020 beginnen, 40 Jahre also nach der Tat - aber wohl ohne Öffentlichkeit.

Seit Jahrzehnten beschäftigt die Aschaffenburger wohl kein anderer Kriminalfall mehr als dieser - wenn es aber zum Prozess kommt, sollen sie außen vor sein? Der Grund ist, dass der nun beschuldigte Mann vor 40 Jahren erst 17 Jahre alt war und also das Jugendgerichtsgesetz für ihn gilt. Dieses legt fest, dass eine Verhandlung gegen Angeklagte, die zum Zeitpunkt der Tat jünger als 18 Jahre alt waren, "nicht öffentlich" ist. Lediglich Erziehungsberechtigte oder Betreuungshelfer respektive ein Erziehungsbeistand sind laut Gesetz im Prozess gestattet. Das Schutzbedürfnis von Jugendlichen, so will es der Gesetzgeber, ist dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit unbedingt vorzuziehen. Was wohl gesellschaftlicher Konsens sein dürfte. Nur dass der Beschuldigte in Aschaffenburg inzwischen 57 Jahre alt ist.

Femizide in Deutschland
:"Trennungstötungen werden oft nicht als Mord eingestuft"

Feministische Gruppen und Die Linke fordern den Straftatbestand "Femizid". Juristin Leonie Steinl kann das verstehen, sieht aber an anderer Stelle Handlungsbedarf.

Interview von Natascha Holstein

Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung löst der Fall vom Untermain längst Debatten unter leitenden bayerischen Justizbeamten aus. Das Jugendgerichtsgesetz auf einen Mann kurz vor dem 60. Lebensjahr anzuwenden, wirke "tatsächlich absolut absurd", sagt ein Spitzenbeamter eines bayerischen Oberlandesgerichts. Dass Angeklagte, die zum Zeitpunkt der Verhandlung längst älter als 18 sind, nach Maßgabe des Jugendgerichtsgesetz behandelt werden, sei zwar durchaus keine Seltenheit. Für einen heute 57-Jährigen aber die ungestörte Entwicklung und das Erziehungsbedürfnis eines 17-Jährigen als einen Schutzzweck unterstellen zu müssen, sei offenkundig paradox. Auch der zuständige Justizsprecher in Aschaffenburg, Ingo Krist, tut sich hörbar schwer damit. "Ob der Gesetzgeber so einen Fall im Auge hatte, ist schwer zu beurteilen", sagt er. Trotzdem müsse man sich natürlich ans Gesetz halten. Auch Krist verweist auf die nun ansteigende Anzahl tatsächlich oder mutmaßlich aufgeklärter "cold cases" - also von Altfällen, die meist mithilfe moderner DNA-Analysetechniken neu aufgerollt werden können. Der Fall Aschaffenburg, so außergewöhnlich er aufgrund der Zeitspanne von 40 Jahren momentan wirken mag, muss also keine Ausnahme bleiben.

Winfried Bausback (CSU) ist an der Causa zweifach nah dran. Der 54 Jahre alte Aschaffenburger war 14 Jahre alt, als Christiane J. leblos im Schlossgarten aufgefunden wurde, als Schüler hat er das wahrgenommen. Als ehemaligen Justizminister beschäftigt ihn der Fall ebenfalls. Zwar begrüßt Bausback das Schutzbedürfnis von Jugendlichen, das mit dem Jugendgerichtsgesetz sichergestellt werde. Mögliche Auswirkungen des Gesetzes bei Altfällen hält er dagegen für "bizarr". Bei Fällen wie dem in Aschaffenburg überwiege klar das Interesse der Öffentlichkeit, "das prägt unseren Rechtsstaat", sagt er. Bausback, selbst Jurist, sieht den Gesetzgeber - also den Bund - aufgerufen zu handeln. Horst Arnold, SPD-Fraktionschef im Landtag und früher selbst Richter, ist da vorsichtiger. Zwar sieht er die Gefahr, dass das Jugendgerichtsgesetz durch so einen Fall in eine "Schieflage in der Wahrnehmung" kommen könnte. Die geringe Zahl solcher Fälle rechtfertigen seiner Ansicht nach aber nicht, Hand an die Gesetzeslage zu legen.

Das hohe öffentliche Interesse an dem Fall erkenne man, sagt Justizsprecher Krist. Sollte die Jugendkammer des Landgerichts die Anklage zulassen, werde man beraten, wie man diesem nachkommen könne. Aus besonderen Gründen können "andere Personen" zwar zum Prozess zugelassen werden - insbesondere aber "zu Ausbildungszwecken", heißt es im Gesetz.

© SZ vom 13.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Zum Tod von Manfred Bruns
:Mit tapferem Herz und scharfem Verstand für die Rechte Homosexueller

Manfred Bruns war Bundesanwalt, als er sich Anfang der Achtzigerjahre als schwul outete. Von da an kämpfte er unermüdlich für die Rechte von Schwulen und Lesben. Nun ist Bruns im Alter von 85 Jahren gestorben.

Von Wolfgang Janisch

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: